Eanna - Stürmische See - Éanna ; [2]
Erstes Kapitel
Als die Morgensonne über der Irischen See aufstieg, traf sie auf einen wolkenlosen Himmel. Ihre ersten Strahlen ließen das Blau des Firmaments wie frostig klares Gletschereis aufleuchten. Die Sonne vertrieb die rußgetränkten Schatten der Nacht aus Dublin und suchte sich ihren Weg bis in die Thomas Street. Hier schickte sie einen ihrer Strahlen durch ein kleines Glasfenster im ersten Stock eines Wohnhauses nahe des St.-James-Tors.
Er fiel in eine winzige Kammer, die einfach, aber behaglich eingerichtet war, und wanderte langsam über den blank gescheuerten Dielenboden bis zu einem schmalen Bettgestell.
Éanna Sullivan spürte die Wärme auf ihrem Haar und vergrub ihren roten Lockenschopf tiefer in die Kissen. Doch das helle Licht, das ihre Kammer erfüllte, machte es ihr unmöglich, sich noch einmal umzudrehen und weiterzuträumen. Obwohl sie ihre Lider entschlossen zusammenpresste, blendete es sie.
Verschlafen setzte sie sich auf und gähnte.
Nach Tagen, an denen die fahle, kraftlose Wintersonne es nicht vermocht hatte, die tief hängende und schmutzig graue Wolkendecke über Dublin aufzureißen, erschien ihr dieser strahlende Sonntagmorgen wie ein Wunder.
Und genau das war er – ein Wunder, dachte sie und dabei durchzuckte sie ein jähes Glücksgefühl, als ihr wieder bewusst wurde, was gestern Abend geschehen war.
Zwei lange Wochen hatte sie in Dublin Tag für Tag nach ihrem Liebsten Brendan Flynn gesucht, nachdem das Schicksal sie erbarmungslos auseinandergerissen hatte.
Und jeden Abend war sie ernüchtert und verzweifelt in die Pension zurückgekehrt. Irgendwann hatte sie die Hoffnung beinahe aufgegeben, unter den unzähligen Hungerleidern, die aus allen Teilen des Landes nach Dublin geströmt waren, diesen einen zu finden.
Und doch war ihr gestern das Unmögliche gelungen!
Brendan Flynn, der siebzehnjährige kraushaarige Rotschopf aus der Gegend südlich von Loughrea.
Der Mann, an den sie ihr Herz verloren hatte – und der endlich in ihr Leben zurückgekehrt war!
Rasch schwang sie die Beine aus dem Bett und schlich in ihrem Unterhemd in Richtung Kammertür. Sie bemühte sich darum, möglichst leise aufzutreten, da sie sich denken konnte, was die gestrenge Pensionswirtin Elizabeth Skeffington sagen würde, wenn sie mitbekäme, dass Éanna im Begriff war, im Unterhemd über den Flur zu huschen, um ihre Freundin Emily in der gegenüberliegenden Kammer zu wecken. Aber was sie ihrer besten Freundin und Weggefährtin zu sagen hatte, duldete keinen Aufschub!
Emily wach zu bekommen war gar nicht so einfach. Murrend zog die Freundin sich die Bettdecke über den Kopf, als Éanna leise ihren Namen rief und sie an der Schulter rüttelte. »Emily, wach endlich auf!«, drängte sie.
Emily schlug die Augen auf und ließ die Bettdecke bis unter das Kinn sinken.
»Warum sollte ich?«, murrte sie schlecht gelaunt. »Hast du vergessen, was für ein Tag ist? Heute müssen wir die Pension verlassen.«
Eine kalte Hand griff nach Éannas Herz, doch sie ließ sich nicht entmutigen. Nicht jetzt. Nicht heute. Nachdem sie Brendan gefunden hatte, war alles möglich!
»Wir müssen dankbar sein, dass uns Patrick O’Brien die Pension so lange bezahlt hat«, erwiderte sie und dachte an ihren Wohltäter, dem sie alles zu verdanken hatte. »Außerdem habe ich Neuigkeiten!«
Emily blinzelte sie verschlafen an, bevor ihr aufging, was ihre Freundin meinen könnte. »Sag bloß, du hast –?«
Éanna blickte geheimnisvoll lächelnd auf sie herunter. »Wenn du wissen willst, was passiert ist, wirst du schon aufstehen und mich zum Frühstück begleiten müssen!«, sagte sie triumphierend. »Wir sehen uns dann unten.« Sie blinzelte ihrer Freundin zu und eilte ohne ein weiteres Wort in ihre eigene Kammer zurück, wo sie sich schnell frisch machte und ihr schlichtes Wollkleid überzog. Dann fühlte sie sich bereit für den neuen Tag und stieg die Treppe ins Erdgeschoss des Hauses hinunter.
Éanna hatte damit gerechnet, dass die Pensionswirtin an diesem Morgen nicht gut auf sie zu sprechen sein würde. Schließlich war sie am vorherigen Abend erst sehr spät nach Hause zurückgekehrt. Und ihre Ahnung täuschte sie nicht.
»Wo hast du dich nur die ganze Nacht herumgetrieben? Dies ist eine ehrbare Pension und ich dulde keine Mädchen, die nachts auf der Straße herumlungern«, stellte Elizabeth Skeffington sie in dem ihr eigenen barschen Tonfall zur Rede, kaum dass Éanna den Frühstücksraum betreten hatte.
Die
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