Meeresrauschen
Drexler und Bernges?
Seit wann interessiert sich Drexler für die Putzfrauen an unserer
Schule?
Der Sanitäter zuckt mit den Schultern und geht zurück zu
seinem Krankenwagen. Ich schaue hinüber zur Halle. Obwohl
sie jetzt hell erleuchtet ist, kann ich nichts erkennen. Das Blaulicht
flackert weiter in den großen Scheiben. Langsam nähere
ich mich der Längsseite. Das Glas ist beschlagen, die warme,
feuchte Schwimmbadluft bricht sich an den kalten Fensterfronten
und perlt in dünnen Rinnsalen an ihnen hinunter. Schweißtropfen
laufen mir über die Stirn und brennen in den Augen. Ich
presse erst meine Hände, dann das Gesicht gegen das Glas. Ich
versuche, das Brennen wegzublinzeln. Die Mütze auf meinem
Kopf kratzt. Warum war die Trage leer? Und was ist mit Drexler
und Bernges? Was geht da drin vor sich?
Ich öffne die Augen wieder und langsam gewöhnen sie sich
an das Licht. Irgendetwas zieht mich in das Innere der Halle.
Ich stemme mich gegen die Scheibe, will dem Sog nicht nachgeben,
aber mein Blick gleitet schon suchend über das Becken.
Auch das Wasser leuchtet im Rhythmus. Einen Moment betrachte
ich die Wasseroberfläche, dann taste ich die Konturen
des Beckens ab. Ich sehe die Startblöcke, den Beckenrand, sehe
Drexler, der auf dem Boden kniet. Neben ihm Bernges und ein
weiterer Mann. Ich presse mich fester gegen die Scheibe. Der
Mann läuft jetzt auf und ab, gestikuliert wild und schreit in sein
Handy. Drexler steht auf, stopft die zu Fäusten geballten Hände
in die Taschen seiner ausgebeulten Trainingshose. Auf einmal
hebt Bernges den Blick und wendet sich mir zu. Ich starre ihm
ins Gesicht. Er starrt zurück. Dann schüttelt er den Kopf und
schaut wieder dahin, wo Drexler eben noch gekniet hat. Meine
Augen folgen seinem Blick, mein Herz schlägt bis zum Hals.
Die Scheibe scheint unter dem Druck meiner Hände und meiner
Stirn nachzugeben. Ich spüre, wie sich all meine Gedanken,
meine Fragen und meine Wut in mir zu einem einzigen Klumpen
zusammenballen. Einem dicken eiskalten Klumpen, der
immer größer wird, erst meinen Hals ausfüllt, dann meinen
Magen, dann meinen ganzen Bauch.
Alles fühlt sich falsch an. Ganz falsch. Ich werde keine Silberhaut
bekommen wie meine Bäume im Wald. Die Kälte muss
von außen kommen, um zu schützen. Nicht von innen.
Und während sich dieser eisige Klumpen in mir ausbreitet,
wandert mein Blick zu dem Körper auf dem Hallenboden. Hält
sich an den Füßen fest, will nicht über die nackten Beine nach
oben wandern, über den schwarzen Schwimmanzug, den flachen
Bauch, und wird doch von diesem eisigen Klumpen immer
weiter gezogen, über den Brustkorb, der vollkommen bewegungslos
ist, bis zu dem Gesicht, das mir zugewandt am Boden
liegt, eingerahmt von nassen Locken.
Ein Engel mit gebrochenen Flügeln.
Der Klumpen in mir zerspringt, und tausend kleine Eissplitter
durchbohren mein Herz, als ich kurz in die starren Augen
sehe, bevor einer der Männer eine Decke darüberlegt.
Melanie. Melanie Wieland.
»Du blöde Kuh! Du gottverdammte elende blöde Kuh!«
Diesmal weiß ich, dass ich es bin, die schreit. Die Starre fällt
von mir ab, meine Hände lösen sich, meine Fäuste trommeln
gegen die Scheibe, als müsste ich nur fest genug auf sie einschlagen
und laut genug schreien, damit Mel wach wird, die Decke
von sich wirft und aufsteht.
Blau – weiß – blau – weiß.
Und Nicki in meinem Kopf singt:
But I think I'm still an angel away …
Nein! Nein! Nein! Nein! Warum hast du das gemacht? Warum?
Ich reiße mir die Kopfhörer runter. Meine Stirn schlägt im gleichen
Rhythmus wie meine Fäuste gegen das Glas. In der Halle
geraten sie in Bewegung, Drexler, die beiden Männer, Bernges,
alle rühren sich, nur Melanie nicht. Die liegt weiter unter ihrer
Decke wie Dornröschen, träumt meine Träume, lacht im Schlaf
über mich und verhöhnt meinen Ehrgeiz.
Ich rutsche an der Glasscheibe hinunter in den Schnee. Die
Eissplitter in mir haben keinen Platz mehr und endlich finden
sie ihren Weg nach draußen.
Ich kotze mir meine ganze beschissene Seele aus dem Leib.
Melanie Wieland ist tot. Und ich –
habe sie umgebracht.
Jutta Wilke
Wie ein Flügelschlag
Jugendbuch
ISBN (Buch) 978-3-649- 60566 -9
ISBN (eBook) 978-3-649- 61138 -7
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