Meerjungfrau
zuschlug, denn auch Erik wollte, dass sie aufhörte zu schreien. Bei jedem Schlag knallte Alices Kopf erneut aufs Holz. Als Eriks Faust sie im Gesicht traf, hörte man, dass etwas splitterte. Er sah, wie Kenneth, der inzwischen leichenblass war, Erik anstarrte. Auch Magnus war von dem Geschrei wach geworden. Verschlafen setzte er sich auf und betrachtete Erik, Alice und seine offene Hose.
Dann verstummte der Schrei. Es wurde vollkommen still. Und Christian lief weg. Er stand auf und rannte, weg von Alice, weg von Badholmen. Er lief nach Hause, raste die Treppe hinauf und in sein Zimmer, wo er sich die Decke über den Kopf und über die Stimmen zog.
Allmählich hörte die Welt auf, sich zu drehen.
W ir haben sie dort zurückgelassen.« Kenneth wagte nicht, Erica ins Gesicht zu sehen. »Wir haben sie einfach zurückgelassen.«
»Was ist dann passiert?«, fragte Erica. Sie klang immer noch nicht vorwurfsvoll, was das Ganze für ihn eher schlimmer machte.
»Ich hatte Todesangst. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, erschien es mir zunächst wie ein böser Traum, aber als mir bewusst wurde, was passiert war, was wir getan hatten â¦Â« Die Worte blieben ihm im Hals stecken. »Ich habe den ganzen Tag darauf gewartet, dass die Polizei an die Tür klopfte.«
»Aber sie kam nicht?«
»Nein. Und ein paar Tage später erfuhren wir, dass Lissanders weggezogen waren.«
»Haben Sie untereinander darüber geredet?«
»Nie. Das war nicht abgesprochen, wir machten es einfach nicht. Erst als Magnus an diesem Mittsommerabend etwas zu viel getrunken hatte, fing er davon an.«
»War es das erste Mal?«, fragte Erica ungläubig.
»Ja. Ich wusste aber auch so, dass er darunter litt. Ihm fiel es am schwersten, damit zu leben. Ich konnte es in gewisser Weise verdrängen, indem ich mich auf Lisbet und mein eigenes Leben konzentrierte. Ich hatte mich fürs Vergessen entschieden. Und Erik brauchte sich wahrscheinlich gar nicht anzustrengen, um nicht mehr daran zu denken. Ich glaube nicht, dass er Schwierigkeiten damit hatte.«
»Trotzdem haben Sie in all den Jahren zusammengehalten.«
»Das verstehe ich selbst nicht. Aber wir ⦠ich habe das hier verdient.« Er bewegte seine verbundenen Arme. »Ich habe noch viel mehr verdient, aber Lisbet nicht. Sie war unschuldig. Das Schlimmste daran ist, dass sie wahrscheinlich alles erfahren hat. Es war das Letzte, was sie hörte, bevor sie starb. Ich war nicht der, für den sie mich gehalten hatte. Unser Leben war eine Lüge.« Er schluckte die Tränen hinunter.
»Was Sie getan haben, war entsetzlich«, sagte Erica. »Anders kann ich es nicht ausdrücken. Aber Ihr und Lisbets Leben war keine Lüge, und ich glaube, das wusste sie. Egal, was sie am Ende erfahren musste.«
»Ich will versuchen, es ihr zu erklären«, erwiderte er. »Ich weiÃ, dass ich auch bald an der Reihe bin. Sie wird auch zu mir kommen, und dann habe ich die Chance, mich zu rechtfertigen. Ich muss einfach glauben, dass es so ist, denn sonst wäre alles â¦Â« Er wandte sich ab.
»Wie meinen Sie das? Wer wird auch zu Ihnen kommen?«
»Alice natürlich.« Hatte Erica ihm überhaupt nicht zugehört? »Sie hat doch das alles gemacht.«
Zuerst sagte Erica gar nichts. Sie sah ihn nur mitleidig an.
»Es war nicht Alice«, murmelte sie schlieÃlich. »Alice war es nicht.«
Er klappte das Buch zu. Er hatte nicht alles begriffen, weil der Roman für seinen Geschmack etwas zu hoch und die Sprache zu kompliziert war, aber der Rahmenhandlung konnte er folgen. Er hätte das Buch früher lesen sollen, denn gewisse Dinge waren ihm nun klarer.
Und es fiel ihm etwas ein. Vor seinem inneren Auge sah er das Schlafzimmer von Cia und Magnus. Irgendetwas hatte er dort gesehen, ohne dem Gegenstand groÃe Beachtung zu schenken. Wie hätte er auch auf diese Idee kommen sollen? Er wusste, dass es unmöglich war. Trotzdem machte er sich Vorwürfe.
Er wählte eine Nummer.
»Hallo, Ludvig. Kann ich deine Mutter sprechen?« Er hörte Ludvigs Schritte und ein Murmeln. Dann kam Cia ans Telefon.
»Hier ist Patrik Hedström. Entschuldige bitte die Störung, aber ich habe eine Frage. Was hat Magnus am Abend vor seinem Verschwinden gemacht? Nein, ich meine nicht den ganzen Abend, sondern eigentlich nur in der Zeit nach dem Zubettgehen. Tatsächlich?
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