Thursday Next 01 - Der Fall Jane Eyre
1. Thursday Next
… Das
Special Operations Network
wurde zur Durchführung polizeilicher Maßnahmen ins Leben gerufen, die entweder als zu ungewöhnlich oder aber zu speziell erachtet wurden, um von den regulären Einsatzkräften bewältigt zu werden. Es gliedert sich in insgesamt dreißig Teilbereiche, von der eher profanen Sektion Nachbarschaftskonflikte (SO-30) über die sogenannten Literatur-Agenten (SO-27) bis zur Abteilung Kunst-Verbrechen (SO-24). Die Wirkungsbereiche der Sektionen SO-1 bis SO-20 unterliegen strengster Geheimhaltung, obgleich allgemein bekannt ist, daß die Chrono-Garde als SO-12 und die Einheit Terror-Bekämpfung als SO-9 firmieren. Gerüchten zufolge überwacht die Abteilung SO-1 ihrerseits die SpecOps. Über die Aufgaben der übrigen Sektionen ist so gut wie nichts bekannt. Fest steht nur, daß sich das Personal zumeist aus ehemaligen Soldaten oder Polizeibeamten mit leichten psychischen Defekten rekrutiert. »Wer zu den SpecOps will«, so eine Redensart, »muß schon ein paar Schrauben locker haben...
MILLON DE FLOSS Eine kurze Geschichte des Special Operations Network
Mein Vater hat ein Gesicht, das eine Uhr stoppen kann. Nicht daß er häßlich gewesen wäre; nein, mit diesem Ausdruck bezeichnet die Chrono-Garde Personen, die in der Lage sind, den reißenden Zeitstrom sozusagen in ein zäh dahintröpfelndes Rinnsal zu verwandeln. Dad hatte als Colonel in der Chrono-Garde gedient und seine Arbeit stets geheimgehalten. So geheim, daß wir von seinem Abgang erst erfuhren, als seine Chrono-Kollegen eines Morgens mit einem unbefristeten, allzeit gültigen Haft- & Eliminationsbefehl in unsere Behausung einfielen und wissen wollten, wo und wann er steckte.
Seither ist mein Vater auf der Flucht; bei seinen späteren Besuchen teilte er uns lediglich mit, daß er den gesamten Chrono-Dienst für »moralisch und historisch korrupt« halte und einen Kampf als Ein-Mann-Guerrilla gegen die Bürokraten im Ministerium für Zeitstabilität zu führen gedenke. Ich habe bis heute nicht begriffen, was er damit meinte; ich konnte nur hoffen, daß er wußte, was er tat, und dabei nicht zu Schaden kam. Dafür, daß er die Uhr anhalten kann, hat er ein großes Opfer gebracht: Er ist jetzt ein einsamer Wanderer zwischen den Zeiten, der nicht nur einer, sondern allen Epochen gehört und dessen einziges Zuhause der chronoklastische Raum ist.
Ich war nicht bei den Chrono-Garden und hatte diesbezüglich auch keinerlei Ambitionen. Nach allem, was man hört, gibt es dort nicht viel zu lachen, obwohl man angeblich sehr gut verdient und das Amt seinen Mitarbeitern eine traumhafte Pension in Aussicht stellt: eine Fahrt an jeden Ort der Welt in jeder gewünschten Zeit (nur Hinfahrt).
Nein, das war nichts für mich.
Ich war eine sogenannte »A1-Agentin« in den Diensten von SO-27, der Sektion Literatur-Agenten (LitAgs) des
Special Operations Network
mit Hauptsitz in London. Das ist nicht
halb
so aufregend, wie es sich anhört. Seit 1980 drängten die großen Verbrecherbanden auf den lukrativen Literaturmarkt, und wir waren notorisch überarbeitet und unterfinanziert. Ich war Bereichsleiter Boswell zugeteilt, einem aufgeblasenen Zwerg, der wie ein Mehlsack mit Armen und Beinen aussah. Er lebte einzig und allein für seine Arbeit; Wörter waren seine große Leidenschaft – für ihn gab es nichts Schöneres, als einem kopierten Coleridge oder falschen Fielding nachzuspüren. Unter Boswells Leitung machten wir die Bande dingfest, die mit gestohlenen Samuel-Johnson-Erstausgaben handelte; ein andermal vereitelten wir den Versuch, eine groteske Fälschung von Shakespeares verschollenem
Cardenio
zu authentifizieren. Was streckenweise zwar recht amüsant war, letztlich aber doch nichts weiter als Oasen im öden, tagtäglichen Einerlei von SO-27: Meistens schlugen wir uns mit Hehlern, Betrügern und Raubdruckern herum.
Ich arbeitete seit acht Jahren für SO-27 und teilte mir in Maida Vale eine Wohnung mit Pickwick, einem zahmen, zurückgezüchteten Dodo, der noch aus Zeiten stammte, als Evolutionsumkehr der letzte Schrei war und man Do-It-Yourself-Klon-Kits an jeder Ecke kaufen konnte. Ich wollte – nein, ich
mußte
– unbedingt weg von den LitAgs, doch Versetzung war ein Fremdwort, und eine Beförderung kam nicht in Frage. In den Rang eines Inspektors konnte ich nur dann aufsteigen, wenn mein direkter Vorgesetzter Karriere machte oder sich zur Ruhe setzte. Aber dazu kam es nicht; Inspektor Turners Hoffnung, ihrem
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