Mein Erzengel (German Edition)
Not gehabt, das kannst du mir glauben. Von Anfang an. Als Baby hat er ständig geschrien, die halbe Nacht hat er mich nicht schlafen lassen. Und ich musste doch am nächsten Tag arbeiten. Zehn Jahre nach dem Krieg war es immer noch nicht leicht für uns, sie haben meinen Mann ja geschnitten. Furchtbar war das. Erst in den Sechzigern wurde es besser. Und dann, in der Schule, wollte Michaël unbedingt mit der linken Hand schreiben. Typisch! Bis wir ihm das abgewöhnt haben!»
Ruth wusste, dass Michaël ursprünglich Linkshänder war. Wenn sie miteinander Federball spielten, wechselte er immer wieder spontan die Hand, was ihm Vorteile verschaffte.
«Wir haben ihm die linke Hand am Rücken festgebunden, da hat er es dann gelernt. Die ‹schöne Hand› hat man damals gesagt. Heute ist man gegen solche Methoden, aber wir haben das nicht gewusst. Er hat es uns später auch vorgeworfen, aber wir dachten, wir tun ihm was Gutes. Damit er es im Leben leichter hat. Glaubst du, dass er deshalb so seltsam geworden ist? Nie haben wir es ihm recht machen können. Alles, was wir gesagt haben, war falsch. Einmal hat er mir aus Amsterdam eine feministische Zeitschrift mitgebracht, die sollte ich abonnieren und mich emanzipieren. Spinner! Als ob ich nicht genug mit der Taverne zu tun gehabt hätte.»
Spinner, in der Tat. Was sollte diese Frau mit den radikalen Aktionen der «Dollen Minas» anfangen? Wie hieß die Zeitschrift doch nur? Ruth lächelt belustigt.
«Das war eine wilde Zeit», fährt Frau Verbeke fort. «Als Teenager kam Michaël in Künstlerkreise und hat ständig dieses Zeug geraucht. Manchmal ist er tagelang nicht zur Schule gegangen, hat sich nur mit irgendwelchen Leuten in Amsterdam rumgetrieben. Von uns hat er sich nichts mehr sagen lassen, hat uns immer nur als Nazis beschimpft. Als ob nicht so schon genug Leute mit dem Finger auf uns gezeigt hätten. Dann auch noch der eigene Sohn. Und was hat mein Mann schon getan? Er wollte das Beste für die Niederlande. Wenn die Deutschen den Krieg gewonnen hätten, hätten die Leute anders geredet. Wie es am Ende gekommen ist, war er auf der falschen Seite. Und das haben sie ihn spüren lassen.»
«Hast du die Vera gekannt?»
«Ja, das arme Ding. Kannst froh sein, dass du den Michaël los bist. Als ihr geheiratet habt, waren wir schon schockiert. So eine Alte, haben wir gesagt. Aber die Vera war ja auch älter, die Älteren haben ihm immer besser gefallen. Wir haben schließlich auch was zu bieten, oder nicht?»
Diese Anbiederung ist Ruth unangenehm.
«Dann haben wir gedacht, vielleicht ist es gut so, vielleicht wird er sich mit dir beruhigen. Und eine Weile scheint es ja auch geklappt zu haben. Die Vera hatte keinen guten Einfluss auf ihn. Immer hat er nach Österreich fahren wollen, kein anderes Urlaubsland war ihm recht. Und wenn wir dort waren, haben wir ihn vierzehn Tage nicht gesehen. Und dann hat er sie auch noch geheiratet. So jung, und gleich die Verantwortung für zwei Kinder.»
Das ist der Augenblick.
«Der Bub war ja ein Spastiker. Was hat Michaël über ihn erzählt?»
«Wenig, sehr wenig. Nur dass er ihn sehr gern gehabt hat, hat man gemerkt. Aber Michaël hätte arbeiten müssen oder wenigstens studieren. Stattdessen hat er Kindermädchen gespielt. Das ist doch nicht normal für einen jungen Mann! Da haben wir gedacht, wer weiß, vielleicht ist’s besser, dass du keine Kinder mehr bekommen kannst. Aber auch das hat offenbar nichts genützt, so schnell, wie er sich dann in diese Flüchtlingsgeschichte gestürzt hat. Das ist schon traurig, wenn man seinen eigenen Sohn nicht versteht.»
Frau Verbeke bekommt feuchte Augen.
«Er kommt uns selten besuchen, obwohl er nicht weit von hier lebt.»
«Wo lebt er denn?»
Ruths Stimme ist belegt. Wird sie es ihr sagen?
«Ich schreib dir’s auf. Willst du ihn besuchen?»
Wortlos schiebt Ruth Frau Verbeke ihr Notizbuch hin. Der Name der unweit von Amsterdam gelegenen Kleinstadt, den sie mit steifen Fingern niederschreibt, ist Ruth bekannt, dort gewesen ist sie noch nie.
«Er lebt mit einer Holländerin zusammen», plaudert Frau Verbeke weiter. «Sie haben sogar ein Kind in Pflege genommen. Jetzt hat Michaël also wieder eine Familie. Gespannt bin ich schon, wie lang er durchhält. Aber so leicht kann er sich jetzt nicht mehr davonmachen. Das Kind, das Haus, sie haben sich verschuldet, um es zu kaufen. Er wollte Geld von meinem Mann, aber der gibt ihm keins mehr.»
Von Amsterdam sind es mit der Regionalbahn
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