Mein Erzengel (German Edition)
Hermans’ verrückte Geschichte über den jungen Tabakhändler Ousewoudt, der sich in dem Roman «Die Dunkelkammer des Damokles» ohne recht zu verstehen, was er tut, während der Besatzungszeit immer tiefer in die Grausamkeiten des Widerstands verstrickt und nach Kriegsende, ohne sich wehren zu können, der «falschen Seite» zugeschlagen und auf der Flucht erschossen wird. Die «falsche Seite» und die «richtige Seite», Ruth begreift, wie sehr die niederländische Gesellschaft nach dem Krieg polarisiert war. Bei Hermans wird die scharfe Trennlinie zwischen Gut und Böse verstörend aufgeweicht. Wer weiß, was der alte Verbeke tatsächlich getan hat. Sein Sohn jedenfalls musste ihn hassen, um vor sich selbst bestehen zu können.
Connie Palmen entdeckte Ruth von alleine, ihr autobiographisches Buch «I. M.» über eine alles verzehrende Liebe las sie, nachdem sie schon von Michaël getrennt war. Atemlos und in einem Zug, mit Eselsohren alle paar Seiten. Wäre sie eine Schriftstellerin, würde sie ihre Abhängigkeit von Michaël genau mit diesen Worten beschreiben. Connie Palmens große Liebe stirbt unerwartet nach vier Jahren an einem Herzinfarkt, ein Schlag, den sie nur schreibend verarbeiten konnte. Hätte der Milizionär Michaël nicht verfehlt, wären Ruths Erinnerungen heute liebevoller. Schade.
Ruth versucht das Gespräch mit Toni wiederaufzunehmen, um die Peinlichkeit des verweigerten Kusses zu überspielen: «Und du hast wirklich nie mehr Kontakt zu ihm gehabt, abgesehen von dem einen Telefongespräch?»
«Ich bin dann auf eine technische Schule gegangen. Und er hatte eine Freundin in Österreich, die er in den Ferien immer besucht hat. Genaueres hat er mir nicht erzählt, er hat daraus ein ziemliches Geheimnis gemacht. Sie war um einiges älter als er, was mich damals sehr beeindruckt hat, ich war noch mit fünfzehn ein Kind. Ich fand es fies von ihm, dass er mich nicht eingeweiht hat.»
Wie sie hieß, daran kann sich Toni nicht erinnern.
Nach ein paar Belanglosigkeiten wird klar, dass sie einander nichts mehr zu sagen haben.
«Soll ich dich zurückbegleiten?», fragt Toni.
«Nein, das schaffe ich schon. Ich hab den Stadtplan dabei.»
«Na, dann noch viel Spaß mit deinem Lover.»
Ruth taucht ein in das Tosen von Neapel. Der Tag geht zur Neige. Nach so vielen Erinnerungen an Michaël will sie nicht sofort zurück zu Benedetto. Eine ganz in Rot gekleidete Tänzerin mit steifem Hut und Reifrock dreht sich wie eine Marionette zum Klarinettenspiel eines jungen Mannes in weißer Mönchskutte. Kaum jemand bleibt stehen, als sei ein solcher Auftritt hier Alltag. Über eine enge Straße sind unzählige bunte Schirme gespannt, eine Weihnachtsdekoration so erfrischend nüchtern und originell im Vergleich zu den Tausenden Glitzersternchen und nach Glühwein stinkenden Christkindlmärkten in Wien. «Das hier ist die Kloake Neapels», hat jemand mit ungelenken Blockbuchstaben auf einen Pappkarton geschrieben und den zwischen ein paar Steinbrocken am Rand der engen Straße geklemmt. Dabei ist es hier viel sauberer als weiter draußen, wo sich am Straßenrand der Müll türmt.
Ruth schlendert hinunter zur Uferpromenade. Das Hotel Excelsior ist in goldrotes Licht getaucht. Hinter dem Geflecht der Jachtmasten glühen in der Ferne die Häuser zu Füßen des Vesuv, auf dessen beiden Kuppen sich Wolkenfetzen dunkel gegen den rosa Himmel abheben. Wie weit hinauf auf den Vulkan die Menschen doch gekrochen sind! Haben sie keine Angst, eines Nachts im Schlaf unter einem heißen Ascheregen begraben zu werden wie ihre Vorfahren von Pompeji und Hercolaneum? Ein paar Minuten später lodert die Sonne noch einmal über dem Horizont von Posillipo auf, ehe sie im Meer versinkt.
Eine SMS auf ihrem Mobiltelefon. Benedetto will sie zum Abendessen ausführen.
17
Ruth ist eben erst dabei, sich mit der neuen Kommunikationsform von E-Mail vertraut zu machen, da erhält sie Anfang September eine ihrer ersten Mails. In der Betreffzeile steht «Alles gut?». Aufrecht sitzt sie da und ringt nach Atem. Die Mail ist von Michaël. Was kann er nach all den Jahren von ihr wollen?
«Irgendwann sollte doch alles gut sein, oder?», schreibt er. «Seit ich dabei bin, mein eigenes Leben wiederaufzunehmen, stoße ich immer wieder auf unsere der Vergangenheit angehörende Beziehung/Ehe. Ich versuche, ein Leben danach zu leben, aber es klappt nicht so recht. Irgendwie habe ich ständig das Gefühl, du siehst mir dabei zu und schüttelst dich
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