Mein Erzengel (German Edition)
mir erst Ihre Werkstatt, erklären Sie mir Ihre Arbeitsweise», verlangt die Frau. «Ich arbeite gerade nur mit Silber», sagt Ruth, «aber dieser Stein braucht unbedingt Gold.» Dann beginnt sie, der Frau die einzelnen Elemente ihres Arbeitsplatzes zu erläutern, die Reibahle zur Feinbearbeitung von Bohrungen, das Zieheisen zur Herstellung von Drähten verschiedener Stärke, das Schoßfell zum Auffangen des feinen beim Feilen anfallenden Goldstaubs, den Armreifriegel zum Hämmern von Armreifen, die verschiedenen Zangen und Pinzetten. Zärtlich nimmt sie jedes Werkzeug in die Hand, streichelt die glatte Stahloberfläche. «Wollen Sie einige meiner Stücke sehen?», bietet Ruth der Frau an, «ich habe auch Fotos.» Als sie aufsteht, um zu ihrem Schubladenschrank zu gehen, in dem sie die Fotos aufbewahrt, sieht sie plötzlich hinter der Glastür Michaël stehen. Stumm steht er da und starrt sie unter seinen geschwollenen Augenlidern heraus feindselig an. Entsetzt kehrt Ruth zu ihrem Arbeitstisch zurück, greift nach dem erstbesten Werkzeug, wie um es zu schützen, einem mit einem Gummiring zusammengehaltenen Satz Kugelpunzen. Weich wie Lakritze liegen sie in ihrer Hand und lassen die Köpfe hängen. Mit einem Schrei lässt sie sie fallen. Auch die anderen Werkzeuge auf dem Tisch sind dabei, ihre Form zu verlieren, zerfließen, ringeln sich ein, krümmen sich wie unter Schmerzen. Die geheimnisvolle Auftraggeberin ist verschwunden. Von Michaël hinter der Tür bleibt nur noch ein sarkastisches Lächeln zurück wie das Grinsen der Cheshire-Katze aus Alice im Wunderland.
19
Holland. Diese Reise muss auch noch sein. Es ist Frühling geworden, die Tulpen werden schon blühen, das macht es bestimmt leichter. Die Niederlande sind schön, so ordentlich, sauber und freundlich.
Voller Widersprüche war Ruths Zeit dort, zuerst ungetrübte Glückseligkeit und dann der Krieg. Ruths Eltern wurden durch den Krieg zusammengeschweißt, ihre Liebe zerbrach erst nach ihrer Rückkehr nach Österreich. Im Frieden drifteten sie auseinander, die Mutter Jüdin und Fremde, der Vater endlich heimgekehrt. Auch Michaël ist vom Krieg heimgekehrt, von seinem Krieg. Freunde von damals haben es ihr zugetragen. Ob er sich jetzt endlich zu Hause fühlt, sich versöhnt hat mit seinen Eltern, mit seinem Land? Ob er sich in den Jahren des Krieges ausreichend aufgeopfert hat, um nun auch an sich selbst denken zu können?
Was muss Ruth noch unternehmen, ehe sie endlich loslassen kann? Jetzt also Amsterdam. Wenn sie dort nichts in Erfahrung bringt, schwört sie sich und notiert es auf einem Zettel, den sie unter den Coca-Cola-Magneten aus Atlanta an den Kühlschrank steckt, wird sie mit Freundinnen ein zweites Scheidungsfest veranstalten und endgültig Abschied nehmen von dieser unseligen Liebe. Danach wird sie sich mit allen Sinnen ins Leben stürzen. Solange die Zeit reicht. Benedetto war erst der Anfang.
Die enge Straße, in der sie einst wohnten, meidet sie. Vertraute Orte, Stammlokale und Läden, die sie mochte, lösen unverzüglich eine Art Phantomschmerz aus. Immerhin war das Zusammenleben mit Michaël ein Lebensprojekt. Allein in Amsterdam, bemüht sie sich um Haltung, will auf keinen Fall der Trauer nachgeben, die sich an sie krallt. Gleich am nächsten Tag wird sie nach Meerwijk weiterreisen. Michaëls Eltern hat sie ihr Kommen nicht angekündigt. Wenn sie unangemeldet hereinschneit, werden sie schon aus Höflichkeit mit ihr sprechen müssen. Irgendwie hat sie das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, vor allem Michaëls Mutter will sie erzählen, wie es zur Trennung kam. Es ist gar nicht sicher, dass er sie überhaupt davon in Kenntnis gesetzt hat.
Ruth sehnt sich nach dem Trost einer Mutter. Ihre eigene hat nur mit den Achseln gezuckt, als sie von der Scheidung erfuhr, sie konnte Michaël nie ein verwandtschaftliches Gefühl entgegenbringen, war zu sehr eingesponnen in ihre eigene unglückliche Welt. Dabei hat sich Michaël rührend um sie gekümmert, als die Mutter einmal bei ihnen zu Besuch war. Für Ruth war deren körperliche Nähe unerträglich, gleich morgens nach dem Aufwachen ihre Stimme war Folter. Michaël war verständnisvoll, es wäre ihm mit seiner eigenen Mutter nicht anders gegangen. Ruth blieb den halben Vormittag im Bett, verbarrikadierte sich im Schlafzimmer, bis der Harndrang sie zum Aufstehen zwang. Doch schon stundenlang hatte sie hinter der geschlossenen Tür die laute, feste Stimme ihrer Mutter gehört, mit dem harten
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