Mein Erzengel (German Edition)
erschrickt, sie ist noch nicht bereit für die Begegnung. Nun gibt es kein Zurück.
«Darf ich?»
Verbeke schaut sie erstaunt an und macht eine einladende Geste.
«Bitte schön.»
Er ist stark gealtert. Zusammengesunken sitzt er da, zwischen den Händen ein Glas Bier, das schüttere Haar weiß. Hat auch sie sich so sehr verändert, dass er sie nicht mehr erkennt? Ruth streckt Verbeke die Hand hin.
«Erkennen Sie mich nicht mehr, Herr Verbeke? Ich bin Ruth, Michaëls Frau.» Das vertrauliche «Du» kommt ihr nicht mehr über die Lippen.
«Geschiedene Frau», korrigiert sie sich wie ertappt. «Sie waren sozusagen mein Schwiegervater.»
Kurz leuchtet es auf in seinen Augen.
«Ah.»
«Wie geht es Ihnen?», fragt Ruth.
Verbeke zuckt mit den Schultern und murmelt etwas Unverständliches.
«Ich bin gekommen, um Sie und Ihre Frau noch einmal zu sehen. Sie wissen bestimmt, das Michaël und ich geschieden sind.»
Die Scheidung seines Sohnes scheint keinen tieferen Eindruck auf den Vater gemacht zu haben.
«Und was wollen Sie dann noch hier?»
Auf Feindseligkeit ist Ruth nicht gefasst.
«Ich wollte einfach mit Ihnen reden. Vieles an Michaël ist mir ein Rätsel geblieben.» – «Und ich habe ihn sehr geliebt», schiebt sie entschuldigend nach, da Verbeke keine Anstalten macht, sich weiter zu äußern.
«Und Sie glauben, dass ich Ihr Rätsel lösen kann? Soll ich meine Frau holen?»
Er zückt sein Mobiltelefon.
«Nein, warten Sie noch einen Augenblick.»
Bei so viel Trägheit geht sie lieber gleich aufs Ganze.
«Ist es wahr, dass Sie während der Besatzung Juden verraten haben?»
Die Frage geht ihr leichter über die Lippen, als sie gedacht hätte. Verbeke hebt den Kopf und schaut sie zum zweiten Mal an, überrascht.
«Was hat das denn mit Michaël zu tun? Der war damals noch lange nicht auf der Welt.»
«Aber er fühlt sich schuldig für etwas, das Sie getan haben.»
«Schuldig», murmelt Verbeke, und dann plötzlich so laut, das die Deutschen vom Nebentisch zu ihnen herüberschauen: «Das war Kommunistenpack! Sie haben ja keine Ahnung, was hier los war! Unschuldige Menschen haben sie erschossen, die eigenen Leute. Nur weil die sich an Recht und Ordnung gehalten haben. Ich habe keine Juden verraten. Das waren Kommunisten! Anstatt sich ruhig zu verhalten und das Kriegsende abzuwarten, haben sie diese Attentate gegen die Moffen gemacht. Und was hat es gebracht? Nichts. Viele anständige Niederländer mussten büßen. In dem Dorf, aus dem ich komme, haben sie sämtliche Männer ins KZ abtransportiert. Keiner ist zurückgekommen. Bei mir heißt das Verrat am eigenen Volk!»
«Und die Juden?»
«Die Juden, die Juden. Die hätten einfach früher abhauen sollen. Aber die wollten sitzen bleiben auf ihrem Geld. Glauben Sie, wir haben es leicht gehabt? Im letzten Winter haben wir gehungert wie die Hunde.»
Die letzten Worte hat er beinahe geschrien, sein Gesicht ist rot angelaufen. Er nimmt einen Schluck Bier. Ruth schaut er nicht an.
«Und nun ist mein eigener Sohn Kommunist», sagt er nun wieder mit normaler Lautstärke. «Wissen Sie, was das heißt für einen Vater? Hätte er damals gelebt, hätte er bestimmt auch seine Landsleute ermordet.»
«Und die Juden? Das waren doch auch Landsleute.»
Verbeke stutzt.
«Die Juden? Na ja, vielleicht. Die hatten nur viel mehr Geld als wir. Und dann hat sich das Blatt eben gewendet. Jetzt sind wir dran, dachten wir. Was man denen dann angetan hat … Das hat niemand gewollt. Wer hätte das von den Deutschen denken können? So saubere, disziplinierte Soldaten waren das. Auch an der Front habe ich nur gute Erfahrungen gemacht. Ich wusste nicht, dass diese Kommunisten Juden versteckt haben. Nachher hat man gesagt, alle wussten es. Aber das ist nicht wahr! Auf jeden Fall hab ich gebüßt. Reichlich. Drei Jahre Lager waren kein Zuckerschlecken. Ich habe mir nichts vorzuwerfen.»
Ruth schweigt. Ihre Frage ist beantwortet.
«Soll ich jetzt meine Frau rufen?»
«Ja, bitte.»
Es dauert nicht lange, bis Frau Verbeke mit ihrem schweren Schritt hereinkommt, sie wohnen ja gleich nebenan. Fast unverändert sieht sie aus, hat sich nur das Haar gefärbt, eine Spur zu rötlich. Ächzend lässt sie sich auf die Eckbank fallen.
«Was für eine Überraschung! Schade, dass ihr nicht mehr zusammen seid.»
Ruth nimmt ihr das Bedauern nicht ab.
«Ja, der Michaël ist ein ganz Schwieriger. Du brauchst dir nichts vorzuwerfen, es hält ihn bei keiner. Wir haben mit ihm unsere liebe
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