Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
vor allem: Sie hat die breite Mitte erfasst. Man muss hierzu das Buch No Limit von Ines Geipel lesen, der ehemaligen DDR -Weltrekordlerin in der Sprintstaffel: Das zeigt, wie die Dinge, die in Peking passieren, in einen weltweiten Trend eingebettet sind. Mir hat mein Trainer schon vor ein paar Jahren erzählt, daß man in kaum einer Disziplin mehr ohne Doping auch nur über die Bezirksebene hinauskommt – und alle sind sich darüber völlig im klaren. Nur Berufsheuchler wie Rudolf Scharping mußten so tun, als bräche für sie die Welt zusammen, als Jan Ullrich sich erwischen ließ. Was für ein Unfug! Seit langem ist doch jedem klar, daß ein Sportprofi immer einen zweiten Beruf ausüben muß, den des Vorbilddarstellers. Die Professionalisierung macht vor der Lüge nicht halt. Wer nicht heucheln kann, kann auch nicht Rad fahren.
Spiegel: Könnte es sein, daß gedopte Sportler uns Normalsterbliche verachten, weil wir uns unserer Beschränktheit ergeben, die Grenzen unseres Körpers und die Grenzen der Schöpfung akzeptieren, während sie erkannt haben, wie man aus ihnen heraustreten kann?
Sloterdijk: Exzellente Frage. Können die Trainierten den Graben zwischen sich und den Untrainierten nur mit Verachtung auffüllen? Viel spricht dafür. Immer wenn ein sehr gesteigerter Mensch zwischen Nichtskönnern herumläuft, klafft eine unbehagliche Diskrepanz auf. Deswegen legen sich Sportler neben der Nie-gedopt-Lüge oft noch eine zweite Heuchelei zu: Sie wollen um alles in der Welt so tun, als wären sie ganz normale Leute. Ihr zweiter Zusatzsport ist die Simulation von Normalität. Kommunistische Intellektuelle hatten die Nummer seinerzeit auch im Repertoire.
Spiegel: Sind Fahrer wie Jörg Jaksche, die alles bekennen, heldenfähig?
Sloterdijk: Er gehört zu denen, die in das protestantische Lager übergewechselt sind – und die neuen Protestanten sind zur Zeit noch eine unwillkommene Minderheit. In den nächsten 100 Jahren werden wir immer Doppelsport haben. Zuerst den Wettkampf selbst und dann die Enttarnung der Schwindler. Auf diese Weise kriegen wir zwei Programme gleichzeitig geboten. Auch deswegen erinnert die Situation der Anti-Doping-Partei an die der Christen in der römischen Arena. Sie werden zwar weiterhin zum Vergnügen des Publikums von den Löwen gefressen, aber aus dem Maul des besten Löwen hängt schon ein Arm mit erhobenem Zeigefinger heraus – mit einer unangenehmen Botschaft: Wenn ihr so etwas sehen wollt, dann seid ihr moralisch am Ende!
Spiegel: Es gibt Hobbyfahrer, die schlucken Paracetamol oder Voltaren, auch Epo, bevor sie auf Tour gehen. Sie auch?
Sloterdijk: Ich hätte keine prinzipiellen Hemmungen, aber ich setze auf innere Regulierungen. Der menschliche Körper ist ein endokrinologisches Gesamtkunstwerk, man muß ihn nur richtig stimulieren, und er dankt es dir mit einer Symphonie von Innen-Drogen.
Spiegel: Tragen Sie eigentlich das Gelbe Trikot, das Ihnen die Kollegen zum Geburtstag geschenkt haben?
Sloterdijk: Sehr gerne sogar. Erstens paßt es mir halbwegs, zweitens hat man das Gefühl, als fahre man wie ein lebendes Alarmsignal durch die Landschaft.
Spiegel: Außerdem ist man den Göttern damit ein Stück näher, oder?
Sloterdijk: Ach, man wird schnell entzaubert. Da draußen fährt jeder Zweite in Gelb.
Spiegel: Herr Sloterdijk, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Interview führten die Spiegel -Redakteure Lothar Gorris und Dirk Kurbjuweit
Drucknachweise
Descartes , in: Peter Sloterdijk, Philosophische Temperamente. Von Platon bis Foucault , München 2011, S. 46-51.
Pascal , in: Peter Sloterdijk, Philosophische Temperamente. Von Platon bis Foucault , München 2011, S. 52-56.
Jean-Jacques Rousseau , in: Peter Sloterdijk, Streß und Freiheit , Berlin 2011, S. 20-28.
Mme de Warens , in: Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage. Notizen 2008-2011 , Berlin 2012, S. 617.
Voltaire, Die Prinzessin von Babylon , in: Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage. Notizen 2008-2011 , Berlin 2012, S. 629.
Nationalversammlung , in: Peter Sloterdjik, Sphären III . Schäume , Frankfurt am Main 2004, 6. Auflage, S. 607-626.
Alexis de Tocqueville, L’Ancien régime et la révolution , in: Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage. Notizen 2008-2011 , Berlin 2012, S. 580-581.
Wenn eine Revolution nicht genügt , in: Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit , Frankfurt am Main 2009, 2. Auflage, S. 171-175.
Die Botschaft von Monte Christo , in: Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit , Frankfurt am Main 2009, 2.
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