Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
noblesse de robe einen eigenständigen Methoden-Adel geschaffen, der seine Mitglieder in allen Schichten rekrutierte, sofern seine Angehörigen den Eid auf Klarheit und Deutlichkeit zu leisten bereit waren. An dem anti-feudalen Charakter dieser Gruppe von neuen Könnenden bestand von Anfang an kein Zweifel. Auch wenn der philosophierende Edelmann Descartes nie einen Zweifel an seinem doppelten Adelsbewußtsein aufkommen ließ, dem ererbten und dem selbst geschaffenen, so erkannten doch die nachfolgenden Generationen bürgerlicher Intelligenz in ihm ihren natürlichen Verbündeten. Aus dem cartesischen Kompetenz-Adel entstand jene Klasse der vorurteilslos selbst denkenden Geister, die von der frühen Neuzeit an das kritische Ferment der europäischen Intelligenz gebildet haben. Noch heute beruft sich, nicht ganz ohne Grund, der Mythos vom rationalistischen Nationalcharakter der Franzosen auf die cartesianischen Privilegien der Deutlichkeit.
Das theoriegeschichtliche Ereignis Descartes bezeichnet eine radikale Währungsreform der Vernunft. In einer Epoche galoppierender Diskurs-Inflation – ausgelöst durch hemmungslose allegorische Mechanismen und Wucherungen der Theologensprachspiele – hat Descartes ein neues Wertkriterium für sinnvolle Reden geschaffen, aufgebaut auf dem Goldstandard der Evidenz. Die notwendige Knappheit dieses Werts ergibt sich aus der Bedingung, daß aus wahren Sätzen immer einerseits gute Gesinnungen, andererseits nützliche Maschinen folgen müssen. »Keinem nützen heißt soviel wie nichts wert sein«, wird der Verfasser des Discours de la méthode erklären.
Wenn der Name Descartes’ durch Epochen hindurch umstritten blieb, dann vor allem deswegen, weil er wie kaum ein anderer den Sieg der Ingenieure gegen die Theologen symbolisiert. Er hat einem Denken den Weg geebnet, das sich vorbehaltlos öffnet für die Epochenaufgabe: Maschinenbau. Die nicht-maschinenbauenden Formen der Intelligenz fühlen sich daher zu Recht durch die cartesischen Impulse entwertet oder desavouiert. Als Schöpfer des analytischen Mythos hat Descartes gleichsam die Metaphysik des Maschinenbaus geschaffen, indem er alles Seiende in einfache kleinste Teile zu zerlegen begann und die Regeln bekanntzumachen suchte, die deren Zusammensetzungen regieren. Indem er das Denken ganz auf das Hin und Her von Analysis und Synthesis verpflichtete, machte er die Vernunft selbst ingenieursförmig und nahm die alte kontemplative Muße von ihr. Nun werden Gedanken zu verinnerlichten Formen von Arbeit, und das Leben des Geistes selbst wird auf den Weg gebracht zur Herstellung nützlicher Dinge. Gleichwohl wäre es falsch, zu glauben, Descartes’ mechanistische Grundüberzeugung habe zu einem Bruch mit der theologischen Überlieferung führen müssen. Gerade beim methodischen Neubeginn des wissenschaftlichen Denkens erweist sich das Fundieren als die eigentlich metaphysische Tätigkeit. Weil aber im großen philosophischen Rationalismus nur Gott das Fundament der Fundamente liefern kann, bleibt die moderne Philosophie cartesischen Typs charakteristisch in der Schwebe zwischen Theologie und Maschinentheorie. Nicht umsonst haben die großen Systemarchitekten des Deutschen Idealismus in Descartes ihren Vorgänger gefeiert. Für sie war wie für den großen Franzosen das Grundlegen die Frömmigkeit des Denkens. Daß nun aber Bewußtsein in die Funktion des Grundlegenden gebracht worden war, das machte die Modernität des transzendentalen Ansatzes aus. Erst mit der Auflösung der bewußtseinsphilosophischen Grundstellung im 20. Jahrhundert ist das cartesische Universum ganz historisch geworden. Descartes’ Werk bleibt aktuell als Zeugnis für jene Verschränkung von Wissenschaft und Besinnung, die heute mehr denn je dem philosophischen Denken seine prekäre Würde verleiht.
Pascal
Wer durch Autoren wie Goethe und Nietzsche erzogen worden ist zu einem Denken in Wahlverwandtschaften und Wahlfeindschaften über Epochen hinweg, für den präsentiert sich die Pascal-Renaissance des 20. Jahrhunderts als eines der stimmigsten Rezeptionsereignisse der jüngeren Geistesgeschichte. Vom Naheliegenden zum Notwendigen ist es nur ein Schritt, und es konnte nicht ausbleiben, daß die Denker des christlichen wie des nicht-christlichen Existentialismus während der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts in Pascal die verwandte Seele witterten. Haben seine Verstimmungen nicht die unserer Zeit vorweggenommen? War seine Melancholie nicht auch schon die
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