Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
ebenfalls Derrida danken, indem ich Derridas gedenke. Diese Einladung brachte mich dazu, den vorliegenden Text zu schreiben.
Latour, Ein Philosoph im Exil – oder:
Der Mann, der die Wissenschaften liebt
Immerhin kam Bruno Latour meinem Wunsch nach Mithilfe bei der Besorgung biographischer Informationen auf eine andere Weise entgegen. Er fügte seiner Antwort ein Foto bei, auf dem man seine Eltern in ihren jüngeren Tagen sah, und zwar bei der zermürbenden Tätigkeit, die man die Hochzeitsreise nennt. Das Bild wurde, wie es in der begleitenden Information hieß, im Jahr 1930 aufgenommen. Die beiden eleganten jungen Menschen, die in die Kamera lächeln, lehnen sich an eine steinerne Balustrade vor der Silhouette einer Stadt an einem südlichen Gewässer. Wenn man weiß, daß die Szene in Bellagio spielt, dann weiß man auch, daß die Wasserfläche hinter ihnen der Comer See ist.
Zwei Dinge waren es, die mich an diesem Bild sofort frappierten. Es war zum einen die Jahreszahl, die mir fast unglaublich vorkam: Man fragt Bruno Latour im Spätsommer 2008 nach seinen Eltern und bekommt ein Bild zu sehen, das schon in illo tempore zu datieren ist, in die verlorene Zeit zwischen den Kriegen: Man geht nur eine Generation rückwärts und findet sich in der Welt von gestern wieder, zu der man in anderen Familien allein über einen zusätzlichen Generationenschritt zurückgelangt.
Zum anderen sprang mir die Kleidung dieser glänzenden jungen Leute ins Auge – Latour senior trägt einen eleganten Anzug mit Weste – über die Farbe erlaubt das Schwarz-Weiß- Foto keine Aussage, außer daß es keine Abendfarbe ist. Irgend etwas sagt mir, daß dieses Outfit nicht nur ein Zugeständnis an die Erfordernisse einer voyage de noce darstellt, sondern einen Habitus reflektiert, der tiefer in die Person eingedrungen war. Der gutaussehende junge Mann, der durch seine Hornbrille gesammelt und leise spöttisch in die Kamera schaut, hat bereits die Luft der Moderne geatmet, soweit sie sich bis in das nördliche Rhônetal zu verbreiten vermochte. Er steht vor dem Geländer am See neben seiner Braut mit jener Lässigkeit, für die man in Englands besseren Kreisen die Formel the easy conscience of effortless superiority anbietet. Einen Augenblick lang kommt es mir vor, als sähe ich den großen Gatsby von Dijon. Die Art, wie er sich an das Geländer zurücklehnt, drückt aus, es komme für ihn nicht in Frage, vor einer Kamera gerade zu stehen. Was ihn von dem amerikanischen Gatsby unterscheidet, ist die Entschlossenheit, bei aller Modernität der Tradition zu geben, was der Tradition gebührt – und dazu gibt es offensichtlich kein besseres Mittel als die Ehe. Wie könne man deren Anfänge besser unterstreichen als durch eine lune-de miel -Woche in Italien?
Der Soziologe Latour dürfte hierzu den Grundsatz assoziieren, daß die Konvention die engste Komplizin des Ausnahmezustands ist – einen Satz, den die Anarchisten des 19. und 20. Jahrhunderts bedauerlicherweise zu spät oder nie begriffen. Während aber der amerikanische Dandy im Nichts verschwindet, entschlossen zu einem Dasein ohne Nachkommen, weiß dieser junge Mann, was es heißt, in einer Überlieferung zu leben. Ich habe über das Haus Latour ein wenig recherchiert und herausgefunden, daß man dort Grund für Selbstbewußtsein hat. Wer zu einem Clan gehört, der 1797 an der Côte d’Or mit dem Weinbau begann – das ist das Jahr, in dem Napoleon den Gipfel seiner Erfolge im Italienfeldzug erklomm – und dieses Geschäft heute in der zehnten Generation betreibt, der kann nicht gut mit gesenktem Kopf durch die Welt laufen. Was die lächelnde junge Dame angeht, die später Bruno Latours Mutter sein wird, so erfüllt auch sie den eleganten Imperativ vollkommen. Sie gibt die Muse des burgundischen Gatsby an ihrer Seite mit jener Natürlichkeit, die man nur durch ein langes Training erwirbt, allenfalls könnte man an der Art, wie sie in die Kamera blickt, eine gewisse Unerfahrenheit ablesen. Sie gibt sich keine Mühe, ihr bestes Kameragesicht zu machen, statt dessen strahlt sie eine naive Herzlichkeit aus, die einer heiteren Braut am besten steht. Im übrigen ist auch sie, was ihr Kleid angeht, kein Kind der Bürgerzeit mehr, geschweige denn eines des ancien régime . Ganz offenkundig ist sie vom frischen Wind der Moderne erfaßt. Im Berlin der frühen Dreißiger hätte man dieses locker hängende Gebilde als todschick bezeichnet. Es wäre reizvoll, sich einen Essay aus der Feder
Weitere Kostenlose Bücher