Mein grosser Bruder
Spitzen. O ja, man sah schon, daß die Hochzeitsreise sie nach Paris geführt hatte.
Dann holte sie ein Kleid aus der überquellenden Schrankwand, bürstete die Haare mit einer Schildpatt-Bürste, steckte zwei Perlen an die Ohrläppchen und schob drei Ringe auf die sorgfältig manikürten Finger. Dann schlüpfte sie in ein Paar italienische Pumps und war schließlich gerüstet, um ihren Sohn und ihre Tochter zu empfangen.
Sie plauderte, lächelte und war glücklich. Ich fühlte mich linkisch, hausbacken und ungeschickt in meiner schottischen Wolle. Ich trat so vorsichtig auf den weichen Treppenläufer, als bäten meine plumpen Schuhe mit den flachen Absätzen um Entschuldigung.
Wir fanden Alfred und Johannes bei einem Apéritif. Mamilein nahm das halbgeleerte Glas ihres Mannes und trank es aus. Sie bekam von Johannes einen Kuß auf die Wange, und dann meldete die Schwarz-Weiße, daß serviert sei.
Wenn ich an diesen Mittag zurückdenke, weiß ich tatsächlich nicht, wovon wir redeten. Ich weiß bloß, daß mein Ohr etwas auffing, was mir nicht gefiel. Mamilein plauschte und war süß. Alfred strahlte vor Verliebtheit. Aber – aber – da war etwas, das knirschte. Es dauerte ein wenig, ehe ich erfaßte, was es war. Aber schließlich kam es mir, zum Bewußtsein. Mamilein als die Gnädige. Mamilein, die mit der Würde der Frau Direktor das Hausmädchen dirigierte. Mamilein als Gastgeberin an einer Tafel voll Silber und Meißner Porzellan.
Dies war nicht Mamilein. Unser Mamilein hatte ständig an Geldmangel gelitten, hatte unregelmäßige Mahlzeiten daheim auf dem Küchentisch gegessen. Sie hatte unzählige Freunde gehabt, Geschenke gekriegt und war unpraktisch, leichtsinnig und verantwortungslos gewesen. Aber sie war trotz allem eine Persönlichkeit gewesen – damals. Sie war sie selbst gewesen, ihr eigenes, unmögliches, wuscheliges und impulsives Selbst.
Dies hier war nicht unser Mamilein – diese elegante Dame in einem Pariser Kleid, die sich mit Besitzerstolz in Alfred Bergums großen, schönen Zimmern bewegte. Das war nicht unser hoffnungslos inkonsequentes, heiteres Mamilein, das uns Bilder von seiner Reise nach Paris zeigte und mit vielen klugen Worten über Gemälde im Louvre und Kunstschätze in Versailles redete. Mamilein und Gemälde! Sie verstand davon soviel wie ich von höherer Mathematik.
Aber Alfred saß ihr gegenüber und verschlang sie mit Haut und Haar, verschlang jedes Wort, das sie sprach, verschlang ihr Mienenspiel und jede Bewegung ihrer kleinen ringgeschmückten Hände.
Alfred war der einzige unter uns, der den Mißklang nicht hörte, der einzige, der nicht ahnte, daß Mamilein Komödie spielte. Für ihn, uns und sich selbst.
Ich fühlte mich fremd und hilflos und war froh, Johannes an meiner Seite zu haben, und erleichtert, als Johannes schließlich zum Aufbruch mahnen konnte.
Alfred und Mamilein begleiteten uns in die Garderobe. Alfred reichte mir meinen Mantel. Er hing bescheiden neben einem glänzenden dunkelbraunen Nerz.
„Was für einen entzückenden Pelz du bekommen hast, Mama“, sagte ich. Nie vorher hatte ich sie so genannt.
„Ja, nicht wahr?“
Sie musterte mich, als ich so dastand, in meinem alten Wintermantel und dem karierten Schal, der in einer großen Schleife unter dem Kragen gebunden war.
„Du könntest eigentlich meinen alten Pelz bekommen, Vivi. Auf jeden Fall kannst du noch eine hübsche Jacke daraus arbeiten lassen.“
„Es ist ja noch nicht Winter“, sagte Johannes, verabschiedete sich und dankte für die Einladung.
Alfred hatte einen Arm um Mamileins Schulter gelegt. Glücklich und stolz stand er da, als er uns bat, bald wiederzukommen.
Draußen steckte ich meinen Arm unter den von Johannes, und er hielt ihn fest. Wir schwiegen lange. Wie auf Verabredung gingen wir zu Fuß zur Stadt zurück. Wir brauchten frische Luft. Das Schweigen zwischen uns war gut und voller Verstehen. Nie hatte ich das Zusammengehörigkeitsgefühl mit meinem Bruder so stark empfunden wie jetzt.
Aber die Eindrücke von diesem Nachmittag arbeiteten in meinem Kopf fort. Neue und verwirrende Gedanken wollten eingeordnet und ausgesprochen werden.
Der erste Augenblick war so gemütlich gewesen. Daß Mamilein um drei Uhr nachmittags im Morgenrock aufgetreten war, hatte ich keinen Augenblick als merkwürdig empfunden. Daran war ich gewöhnt. Aber das andere – all das andere…
Schließlich mußte ich reden.
„Johannes, findest du nicht auch, daß Mama anders geworden
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