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Mein grosser Bruder

Mein grosser Bruder

Titel: Mein grosser Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berte Bratt
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wirklich, daß ich noch ein kleines Mädchen wäre, auf das man aufpassen und das für alles erst die Erlaubnis einholen müßte? Wenn er diese Einstellung hatte, würde ich sie ihm schon austreiben, je eher, desto besser!
    Es war Spätherbst und schon recht kalt. Der Himmel war von einem kühlen Blau. Die Sonne schien angestrengt blaßgelb, aber immerhin: sie war da und umspielte die letzten goldbraunen Blätter.
    Johannes hat nie ein Auto gehabt. „Was sollte ich damit?“ hatte er geantwortet, als ich einmal fragte. „Zum Büro gehe ich immer zu Fuß, und wenn wir mal ausgehen sollten, können wir ein Taxi nehmen, das wird längst nicht so teuer wie Garage, Benzin, Wartungsdienst und all das andere.“
    Wir fuhren mit dem Bus bis zum Stadtrand, von dort gingen wir zu Fuß eine dreiviertel Stunde. „So kommen wir zu einem schönen Sonntagsspaziergang“, sagte mein vernünftiger Bruder.
    Während wir loswanderten, mußte ich ein bißchen so vor mich hin lächeln. Ich dachte daran, daß Johannes sich zum erstenmal um mein Kleid gekümmert hatte.
    Ich hatte das Burgunderrote angezogen, das mir von allen am besten steht. Johannes betrachtete es mit kritischen Augen. „Hast du dies nicht von Mamilein bekommen?“
    „Gewiß“, sagte ich. „Ich habe bloß am Hals und an den Ärmeln etwas geändert. Ist es nicht hübsch?“
    Johannes schwieg einen Augenblick. Dann kam es: „Mir gefällst du am allerbesten in dem neuen Schottischen, Vivi.“
    Lieber Johannes, ich verstand es. Zum erstenmal funktionierte mein Gehirn einigermaßen. Ich lächelte.
    „Ich kann ja das Schottische anziehen, Johannes, ich mag es selber auch gern.“
    Das schottisch gemusterte Kleid hatte ich mir vor ein paar Wochen ausgesucht, und Johannes hatte es mir geschenkt.
    Ich zog mich um und wollte die grüne Kette um den Hals nehmen, aber dann legte ich sie beiseite. Die Kette hatte ich von Mamilein, und ihr hatte sie vor sehr vielen Jahren ein Mann geschenkt, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnerte. Sie hatte diese Kette eines Tages in Ärger und Zorn mir zugeworfen und gesagt: „Die kannst du haben, Vivi.“ Und der Mann hatte sich bei uns nicht mehr blicken lassen.
    Als ich noch klein war, dachte ich nie über so etwas nach und hätte natürlich auch keinen Zusammenhang darin gesehen. Eine hübsche Halskette war eben eine hübsche Halskette, das genügte mir.
    Aber heute legte ich sie nicht um. Statt dessen befestigte ich die kleine Goldnadel mit dem Kranz aus winzig kleinen Zuchtperlen, die mir Johannes zur Konfirmation geschenkt hatte, am Hals.
    Es war ein sonderbares Gefühl, zu einem feierlichen Sonntagsfamilienessen zu Mamilein zu gehen. Ein Gefühl, das ich gar nicht beschreiben kann. Ich hatte Herzklopfen, als wir vor der schweren Eichentür zu Alfreds und Mamileins Villa standen. Unwillkürlich steckte ich meine Hand in Johannes’ große Faust.
    Er antwortete mit einem raschen Druck und läutete.
    Stubenmädchen in Schwarz-Weiß, Halle in weißem Empire, breite Wendeltreppe mit einem weichen dunkelroten Teppich. Eine Tür ging auf, und Alfred erschien. Groß und breit, lächelnd und jovial.
    „Nett, euch zu sehen, Kinder. Herzlich willkommen. Ulla kommt gleich, sie ist wohl…“
    „Ach, seid ihr schon da!“ tönte Mamileins Stimme von oben. „Ich komme in zwei Minuten.“
    Wir blickten hinauf. Oben auf der Treppe stand unser Mamilein mit roten Backen und blonden Locken, in einem Traum von apfelgrüner Seide. Der raffinierteste Filmregisseur hätte es nicht schmeichelhafter arrangieren können.
    Nie hatte ich sie so hübsch gesehen. Und die Zärtlichkeit für meine kleine Mutter stieg in mir hoch, diese unerklärliche Zärtlichkeit, die alles verzeiht.
    Ich rannte die Treppe hinauf und hörte, wie sich unten eine Tür hinter Alfred und Johannes schloß.
    „Wie nett, dich wiederzusehen, Mamilein. Wie… hübsch du bist!“
    „Ja, nicht wahr? Das sagt Alfred auch. Ich freue mich, daß du da bist, meine Vivi. Komm und erzähle mir, wie es euch geht. Bis ich mich fertig gemacht habe, können wir noch ein bißchen unter uns sein. Kannst du alles schaffen? Habt ihr oft Gäste?“ Sie umarmte mich rasch und zog mich in ein riesengroßes Schlafzimmer hinein, es blinkte von polierter Ulme, Spiegeln und duftigen Vorhängen. Mamilein plauderte, während sie das Apfelgrüne über das Bett warf und mir die Gelegenheit gab, ihre Unterwäsche zu bewundern. Sie stand da wie eine zarte Puppe in handbestickter Seide und hauchdünnen

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