Mein Leben im Schrebergarten
mir die Beeren besonders saftig und groß zu sein. Die Einrichtung lag nicht weit von unserem Haus entfernt: sechs Stationen mit dem Bus. Im Hof des Instituts stand ein Denkmal – ein bärtiger Wissenschaftler auf einem Stuhl, der ein gespaltenes Atom in den Händen hielt, dargestellt als Kugel, die in zwei Hälften zerfallen war. In der linken Hand hielt der Wissenschaftler die eine Halbkugel, in der rechten die andere. Etwas verwundert schaute er auf die beiden Hälften, wie ein Kind, das gerade sein Lieblingsspielzeug kaputtgemacht hat und nicht weiß, wie man es wieder zusammensetzt.
Neben dem Institut wuchsen mehrere Vogelbeerbäume, die ich regelmäßig durchkämmte. Anschließend tauschten wir die Vogelbeeren mit den Nachbarn, um den Geschmack zu vergleichen. Wenn einem die eigene Ernte nicht gefiel, konnte man sie noch immer an die Nachbarn verschenken. Eine ähnliche Aktion kam mir in den Sinn, als ich noch überlegte, was ich mit meinem Rhabarber machen sollte. Ich schlug meinen Nachbarn vor zu tauschen: »Ist doch nicht uninteressant herauszubekommen, wie unterschiedlich der Rhabarber auf unseren Grundstücken schmeckt«, meinte ich. Niemand sagte Nein, alle wollten wissen, wie sich die Rhabarber unterschieden. Unter dem Vorwand, ich würde jedem nur ein Zehntel meiner Ernte geben, war ich innerhalb von zehn Minuten meinen ganzen Rhabarber los. Günther nahm zum Beispiel eine volle Tüte. Nur einen ganz dicken und innen hohlen Stiel behielt ich, um daraus ein Spuckrohr für meinen Sohn zu machen. Ich freute mich über die erste Ernte, die so schnell und unkompliziert verlaufen war. Doch ich freute mich zu früh, denn am nächsten Tag bekam ich von meinen Nachbarn ungefähr das Doppelte an Rhabarber zurück.
Gut, dachte ich, irgendwie gehört Rhabarber zur hiesigen Leitkultur, man kann ihn als ein Teil des Integrationsprogramms betrachten. Ich darf ihn nicht ignorieren, ich muss ihn essen. Meine Frau schälte die Stiele, kochte sie fünf Minuten mit etwas Zucker, und ich bekam einen Topf mit einer grün-schleimigen Masse, die aussah wie … Aber vielleicht ist sie lecker, dachte ich, trank jedoch erst einmal einen Wodka vorweg, zur Desinfektion des Magens. Das Rhabarbermus schmeckte wie Essig mit Zitronensaft – nichts für Gourmets, aber darum ging es mir ja auch nicht. Das zugegeben ziemlich scheußliche Gericht erfüllte mich mit dem Gefühl der Zugehörigkeit. Herr Kern und Frau Beere erschienen mir auf einmal nicht mehr so skurril. Wir alle machten hier gemeinsame Sache, und das Aufessen der Rhabarberbestände gehörte einfach dazu. Einmal musste man es probieren. Auf jeden Fall würde ich das Rhabarberessen als Teil des Einbürgerungstests für die Bundesrepublik empfehlen, um bei der Vergabe der Staatsangehörigkeit den Kandidaten begreiflich zu machen, dass das Leben in Deutschland kein Zuckerschlecken ist. Ein Kilo pro Einbürgerung müsste reichen. Die deutschen Schrebergärten könnten liefern.
6 - Der Sinn des Lebens
Der Wuchs der Natur in unserem Garten war unaufhaltsam. Im April konnte ich noch mit Sebastian auf dem Rasen Fußball spielen. Einen Monat später schaffte ich es gerade noch mit Mühe, mich zwischen die Bäume und Büsche zu quetschen, um überhaupt einen freien Platz unter der Sonne in diesem Garten Eden zu finden. Von Tag zu Tag wurde der Garten durch die Pflanzenexpansion kleiner. Kaum mähte ich den Rasen an einer Ecke zu Ende, schon wuchs das frische Gras an der anderen nach. Anstatt der blauen sprossen nun überall weiße, rote und gelbe Blümchen durcheinander aus der Erde. Manche von ihnen sahen so schön aus, dass man sie am liebsten nicht mit weggemäht hätte, diese volkstümlichen anspruchslosen Pflanzen und namenlosen Gewächse.
Auch die Biotoilette erwies sich als wahres Wunder, ihre Möglichkeiten, unsere Familienscheiße zu absorbieren, schienen unerschöpflich. Sie stank nicht einmal, und wenn man den Deckel öffnete, sah man nichts, obwohl unsere Kinder sich ungeheuer anstrengten, die Toilette vollzukriegen. Zu Hause konnten sie tagelang Computer spielen oder vor dem Fernsehen hocken, ohne nur einmal auf die Toilette zu gehen. Aber kaum betraten sie unseren Garten, mussten sie sofort aufs Klo, beide gleichzeitig und mehrere Male hintereinander. Unsere Tochter lud sogar fremde Kinder von anderen Parzellen ein, unsere Biotoilette zu benutzen. Einmal habe ich deutlich gehört, wie sie zu einem mir unbekannten Schrebergartenkind sagte: »Komm mit,
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