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Mein Leben im Schrebergarten

Mein Leben im Schrebergarten

Titel: Mein Leben im Schrebergarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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mit diesem Thema herumschlugen und dabei zu einer Art Sinnsucheprofis entwickelt hatten. Ihre Suche war breit angelegt. Sie suchten in der Medizin, in der Wissenschaft, im Glauben und im Himmel, auf der dunklen Seite des Mondes, in der Galaxis, im Universum, im Sternbild des Bogenschützen und so weiter, aber niemand von ihnen war auf die Idee gekommen, in einem Schrebergarten nach dem Sinn des Lebens zu suchen. Ihre Suche war ein Spiegel, in dem jeder sich selbst und seinen eigenen Sinn entdeckte, den Sinn des Nachbarn aber nicht mehr erkennen konnte. Im Großen und Ganzen glich die Anthologie  Der Sinn des Lebens unserer Biotoilette. Hunderte und aberhunderte von Denkern füllten sie mit ihren qualvoll gewonnenen Erkenntnissen und Erfahrungen, und trotzdem schien sie leer zu sein. König Salomon, Leo Tolstoi und unzählige andere suchten nach der Wahrheit und stellten immer die gleichen Fragen: Wozu? Was dann? Und was bleibt von mir, wenn ich tot bin und die anderen nicht?
    Besonders diese letzte, eine typische Männerfrage, ließ ihnen keine Ruhe. Zu verschiedenen Zeiten gab die Volksweisheit unterschiedliche Antworten auf diese Frage. Bei uns in der Sowjetunion galt: Ein Mann sollte drei Dinge in seinem Leben schaffen: einen Sohn erziehen, ein Haus bauen und einen Baum pflanzen. Es war nicht leicht, im entwickelten Sozialismus dieser Weisheit zu folgen. Mein Vater zum Beispiel hatte kaum Einfluss auf meine Erziehung, wir haben uns einfach selten gesehen. Er musste sehr früh zur Arbeit und ging anschließend sehr früh ins Bett. Auch ein Haus durfte er nicht bauen, dafür bekam er eine Zwei-Zimmer-Wohnung vom Staat. Deswegen galt seine Sinnsuche allein dem Baum, einem wilden Zitronenbaum, der eines Tages wie aus dem Nichts in sein Leben getreten war. Zwanzig Jahre lang hatte mein Vater die Abteilung Planwesen eines Betriebes geleitet, der ausklappbare Flussbrücken produzierte. Es war kein besonders abwechslungsreicher Job. Er saß in einem Büro im Verwaltungsgebäude, ganz oben im dritten Stock. Dort hatte er einen Tisch, einen Stuhl, eine Schreibmaschine und jede Menge Freizeit. Laut Wirtschaftsplan durfte der Betrieb meines Vaters nicht zu viele Brücken produzieren, damit die anderen Betriebe auch noch etwas herzustellen hatten. Deswegen nutzten die meisten Mitarbeiter ihre Arbeitszeit, um ihren Hobbys nachzugehen. Der Direktor war ein Taubennarr, er besaß einen Taubenschlag auf dem Hof. Der erste Ingenieur beschäftigte sich mit Schach, die Wände seines Kabinetts waren mit Darstellungen der berühmtesten Schacheröffnungen geschmückt. Die anderen Mitarbeiter experimentierten mit alkoholischen Getränken und erfanden neue Glücksspiele.
    Mein Vater hatte lange Zeit kein Hobby. Er langweilte sich. In seiner Planabteilung stand ein Blumentopf mit einem vertrockneten Veilchen auf dem Fensterbrett. Irgendwann drückte mein Vater einmal aus Langeweile ein paar Zitronenkerne in die Erde. Schon wenig später konnte man ein kleines Pflänzchen aus der Erde wachsen sehen. Mein Vater fand es niedlich. Der Zitronenbaum in seinem Büro erwies sich als ungeheuer überlebensfähig. Er wuchs sehr schnell, und die Beziehung zwischen ihm und dem Chef der Abteilung Planwesen wurde immer enger. Mein Vater fing an, sowjetische Sachbücher zu lesen, die auch allesamt so dumme Titel hatten wie  Die zehn goldenen Regeln des Zitronenanbaus  und  Der kleine Garten auf meinem Schreibtisch . Er baute für seinen Baum ein extra großes Gefäß, das aber auch bald zu klein wurde. Nach zwei Jahren beanspruchte die Zitrone schon beinahe die Hälfte seines Kabinetts. Jedem Neuankömmling wurde als Erstes der Zitronenbaum als eine Sehenswürdigkeit des Betriebes vorgeführt. Ein volles Jahrzehnt verbrachte mein Vater im Schatten dieses Baumes. Dann fing sein Gewächs auch noch an, Früchte zu tragen. Zwar waren es nie mehr als drei, obendrein kleine und ungemein saure Zitronen, aber sie versetzten den ganzen Betrieb in Staunen und Spottlust. Mein Vater verehrte die Früchte geradezu. Er verschenkte sie an Familienangehörige – mit einem Gesichtsausdruck, als wären sie ihm am eigenen Körper gewachsen.
    Dann kam die Perestroika. Sein Betrieb wurde privatisiert und blitzschnell abgewickelt. Die Produktionsräume wurden an eine Technodisko vermietet, und in das Verwaltungsgebäude zogen moderne Dienstleister ein, kleine Firmen und Sportvereine. Der Direktor pfiff seine Tauben zusammen und machte sich mit ihnen aus dem Staub. Der

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