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Mein Leben im Schrebergarten

Mein Leben im Schrebergarten

Titel: Mein Leben im Schrebergarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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Zeit starr auf den Busen der Moderatorin, die zwei Köpfe größer war als er. Anschließend hielt er eine kleine einfühlsame Rede, die er ganz deutlich an den Busen adressierte:
    Jeder Mensch habe das Recht, seine Bedürfnisse geltend zu machen, sagte der Bürgermeister, aber nur dann, wenn seine Bedürfnisse mit den Bedürfnissen anderer Menschen nicht in Konflikt gerieten. Demokratie, erklärte der Bürgermeister dem Busen, sei eine Diktatur der Mehrheit, und die Mehrheit sei in Russland nach wie vor, Gott sei Dank, heterosexuell. Wenn er, der Bürgermeister, zum Beispiel der Unbekannte Soldat wäre, dann würde es ihm gar nicht gefallen, dass irgendwelche Tunten ihre schwulen Blumen zu seinem Mahnmal trügen.
    Danach entstand eine Pause. Auf den Gedanken, dass der Bürgermeister ein Unbekannter Soldat sein könnte, war anscheinend niemand aus der Runde gekommen. Auch der Bürgermeister selbst schien von seinem Vergleich etwas überrascht zu sein.
    Was aber wäre, konterte der Sänger im Frauenkleid hochphilosophisch, wenn wir annehmen, der Unbekannte Soldat sei schwul gewesen?
    Das werden wir wohl nie erfahren, mischte sich die Moderatorin ein, denn unsere Zeit ist um. Danke, dass Sie alle zu uns ins Studio gekommen sind – und jetzt kommt Werbung.
    Nach der Werbung ging es mit den blutigen Nachrichten weiter. Von Steinen verletzte Gesichter von Demonstranten, Uniformierte mit Maschinengewehren, Jugendliche, die aufeinander losgingen … All diese Menschen konnten und wollten nicht miteinander. Das Gift des Fernsehens, diese Blausäure der Berichterstattung, die wir in uns hineinsogen, machte mich aggressiv. Am liebsten wäre ich sofort auf die Straße gegangen, um alle zu verhauen.
    Am nächsten Tag feierte Deutschland Pfingsten, eines von diesen religiösen Festen, dessen Bedeutung mir immer rätselhaft bleiben wird. Der Himmel reinigte sich ein wenig, und die Sonne strahlte gelegentlich ins Zimmer. Im Mauerpark fand ein Flohmarkt statt. In einer Tag- und Nebelaktion mit dem Auto eines Freundes erwarben wir dort neunhundert Liter Mutterboden und verteilten ihn in unserem Garten, wobei ich zuerst die alte Erde kräftig umgrub. Die meisten Bäume hatten schon dicke Knospen, die Farne kugelten sich auseinander, nur eine Rote Johannisbeere ragte noch halb tot aus der Erde, und von unserer neu gepflanzten Hecke war höchstens jede zweite Pflanze ergrünt. Unserer Meinung nach lag das an dem schlechten Zustand des Erdbestandes.
    »Dit is keine Erde, dit ist Beton«, hatte Günther Grass gesagt. Auch er verbrachte Pfingsten im Garten. Ich war wie vom Gartenteufel besessen: Ich wollte immer weitermachen, irgendetwas beschneiden oder begießen. Für weitergehende Maßnahmen zur Verschönerung der Gartenanlage fehlten uns jedoch theoretische Kenntnisse. Also verbrachten wir den Rest des Tages damit, unsere Gartenmöbel auf ihre Stabilität zu prüfen.
    Als die Geschäfte wieder öffneten, gingen wir in eine Buchhandlung, um uns mit Fachliteratur einzudecken. Eine halbe Stunde verbrachte meine Frau vor dem Gartenregal, sie konnte sich nicht entscheiden. Allein schon die Titel dieser Ratgeber schreckten sie ab:  Welche Blume ist das? ,  Wie bissig ist der Löwenzahn?  und  Das verfluchte Kräuterjahr . Die meisten Bücher waren in einer kinderfreundlichen Sprache verfasst, mit vielen Skizzen und Zeichnungen, so dass auch der letzte Analphabet nichts falsch machen konnte. Sie erinnerten an sexuelle Aufklärung für Grundschüler: »Steck die Pflanze niemals mit dem Kopf in die Erde« oder so ähnlich.
    Während meine Frau die Gartenliteratur durchstöberte, blieb ich bei dem benachbarten Regal »Philosophie« hängen. Die beiden Regale befanden sich so nahe beieinander, dass ich die Beschriftung zuerst als »Garten-Philosophie« las. Erst nachdem ich ein paar Titel aus dem Regal geholt hatte, wurde mir klar, dass es hier um eine andere Sphäre menschlichen Schaffens ging.
    Wir kauften ein paar Bücher. Meine Frau nahm  300 praktische Ratschläge für intelligente und faule Gärtner  mit und ich eine dicke Anthologie mit dem vielversprechenden Titel  Der Sinn des Lebens sowie das Buch  Leben in den Wäldern  von Henry David Thoreau. Diese Bücher fand ich als Gartenlektüre passend.
    Die Philosophen, die sich in der Anthologie bemühten, sich selbst und den anderen den Sinn oder die Sinnlosigkeit des Lebens zu erklären, waren bedauernswert anstrengend zu lesen. Man glaubte ihnen sofort, dass sie sich schon lange

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