Mein Leben im Schrebergarten
summenden Volk wird mit uns Weihnachten verbringen. Noch bevor ich dieses Kapitel zu Ende geschrieben habe, werden sie wahrscheinlich alle tot sein, und niemand wird ihnen eine Träne nachweinen.
Die Fruchtfliegen gingen in den letzten Wochen mit ihrer hektischen Rumfliegerei vielen auf den Geist. Sie waren überall; in der Küche, auf dem Bildschirm, im Bad und auf der Toilette. Sie schwammen in jedem Glas Bier, Wein und Cuba Libre, das man bestellte. Man konnte weder Fruchtiges noch Alkoholisches zu sich nehmen, ohne dabei mindestens zwei Fruchtfliegen mit zu verschlucken. Sie waren penetrant und ekelhaft. Trotzdem sind meine Hände sauber geblieben, ich habe mich mit den Fruchtfliegen nicht angelegt, ich habe keine Einzige von ihnen umgebracht. Ich konnte gut nachvollziehen, warum sie so nervös waren. Ihre Lebenserwartung ist zum Durchdrehen kurz, in einer solchen Situation würde jeder ins Glas fallen. Und wer würde es schon wagen, unter solch tragischen Umständen einer Fruchtfliege die letzten Tage oder gar Stunden zu vermiesen? Nur ein Faschist, jemand ohne Gewissen. Ich rettete sie, wann und wo ich nur konnte. Ich fischte sie aus meinem Glas, warf sie in die Luft, aber die meisten waren bereits tot und fielen wie Zigarettenasche zu Boden. Nur die wenigsten überlebten. Sie flogen sofort weg – bloß keine Zeit verlieren. Denn auch eine Fruchtfliege hat viel vor, wenn sie auf die Welt kommt. Sie braucht erst einmal ein paar Stunden, um sich umzuschauen und um die eigene Pubertät zu überstehen. Dann fliegt sie herum, lässt sich wie ein Blatt in den Wind des Schicksals fallen und wird mal in das eine oder andere Glas Bier gedrückt. Na toll, jetzt kann ich eigentlich langsam mit der Lebensplanung beginnen, jetzt geht es los, denkt die Fruchtfliege und landet im Schaum.
Wenn es mein Bier ist, hat die Fliege vielleicht noch Glück gehabt. Wenn sie aber im Bier eines Faschisten absäuft, dann nutzt ihr ihre ganze Lebensplanung nichts mehr. Ich möchte an dieser Stelle mit einer Schweigeminute der vielen Fruchtfliegen gedenken, die nicht mehr unter uns sind. Noch gestern bebte die Erde von ihrem leisen Summen, nun sind sie von uns gegangen. Es ist Spätherbst. Tja. Wenn die Buddhisten recht haben mit der Wiedergeburt, dann wünsche ich niemandem, als Fruchtfliege wiedergeboren zu werden. Sie haben ein hektisches Leben und sehen scheiße aus. Viel besser ist es, als etwas Knackiges, ewig Junges und Liebenswertes wiedergeboren zu werden. Nur was kann das sein? Fischstäbchen vielleicht? In der Tat, viele Kinder und sogar manche Erwachsene mögen sie, dabei können sie locker hundert Jahre in einem Gefrierfach verbringen. Ich habe schon Fischstäbchen gesehen, die laut Etikett älter waren als der Kühlschrank, in dem sie lagen. Trotzdem sahen sie noch knackig aus. Aber sie rochen nach Fisch, als man sie auftaute. Wer will schon sein Leben lang nach Fisch riechen, ohne einer zu sein? Eigentlich schmecken Fischstäbchen nach Pappe, und gut aussehen tun sie auch nicht. Die Kinder lieben sie trotzdem. Sie lieben sie nicht für irgendwelche besonderen Eigenschaften, sondern aus reinem Herzen – einfach so. Die echte Liebe ist immer unvernünftig, sie entsteht dem eigenen Vorteil zum Trotz. Deswegen spielt es in dieser Liebe überhaupt keine Rolle, wie Fischstäbchen wirklich schmecken. Sie werden mit reichlich Ketchup und Senf heruntergemetzelt.
In früheren Zeiten, als sich die drei Generationen noch regelmäßig sahen und beim Frühstück, Mittagessen und Abendbrot nebeneinander am Tisch saßen, konnten die Kinder ihre Liebe direkt an ihre Eltern adressieren. In einer Leistungsgesellschaft sind die Generationen nicht mehr aufeinander angewiesen, sie haben sich mithilfe von Pflege- und Rentenversicherung und zig anderen Versicherungen abgepolstert und driften immer weiter auseinander. So spielen auch die Eltern in der Realität ihrer Kinder kaum noch eine Rolle. Ihre ersten Begegnungen mit dem Leben und dem Tod finden jenseits der Familie statt. Die Fischstäbchen ersetzen die erste Liebeserfahrung. Die erste Begegnung mit dem Tod, für den früher der Großvater verantwortlich war, der im Krieg am Bein verletzte, halb taube, röchelnd hustende Großvater, der während des Essens immer den Ehrenplatz am Tisch bekam und irgendwann abkratzte. Dann lag er festlich gekleidet und ungewöhnlich ruhig mit kreidebleichem Gesicht auf ebendiesem Mittagstisch, zum Abschied freigegeben, und sorgte für erste gruselige
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