Mein Leben im Schrebergarten
Winter vor, die Wasseruhren wurden abgelesen, das letzte Obst aufgesammelt, und es war auch für mich an der Zeit, meinen Schrebergartenroman zu beenden. Ich überlegte: Was ist nun die Botschaft dieser Arbeit? Wer war Doktor Schreber wirklich? Warum Rhabarber? Wie wird sich die Schauspielkarriere von Frau Krause weiterentwickeln? Und welche Lehre ziehen wir, verdammt noch mal, aus dem Ganzen? Einpflanzen? Auspflanzen?
Ich sprach meinen Nachbarn Herrn Kern an, der wusste, dass ich einen Schrebergartenroman schrieb, ob er vielleicht eine Idee für das Ende hätte.
»Das ist noch nicht das Ende!« Herr Kern zeigte Richtung Vereinsgebäude. »Du hast das Wichtigste noch nicht mitgekriegt, die alljährliche Vollversammlung der Kleingartenkolonie – ein Spiegel unserer Gesellschaft!«
Ich hielt seine Aussage für etwas pathetisch – schließlich kann man jede Menschenversammlung als Spiegel der Gesellschaft bezeichnen –, beschloss aber, für alle Fälle mit dem Romanschluss bis zur Vollversammlung zu warten.
Ende November war es so weit. Die Vollversammlung, die das Ende des Gartenjahres markieren sollte, war für den letzten Samstag des Monats angekündigt. Trotz Regen kamen sehr viele Gärtner zur Versammlung, einige erkannte ich, viele sah ich zum ersten Mal. Das Publikum strömte in das kleine Café des Vereins. Hunderte waren gekommen. So viele werden doch nie im Leben in ein solches Café passen, dachte ich. Ein Mann im roten Pullover bohrte sich durch die Menge, holte ein Bündel Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete eine unauffällige Hintertür neben der Toilette. Ich hatte diese Tür früher schon einmal bemerkt. Nach meiner Vorstellung von der Architektur des Hauses musste sich dort ein winziges Zimmerchen befinden, eine Abstellkammer, in der man kaputte Gasbrenner und ausgebrannte Rasenmäher lagerte. In Wirklichkeit verbarg sich hinter dieser Tür ein Konferenzsaal, in dem man selbst die Sitzungen des vergrößerten UNO-Sicherheitsrates abhalten könnte.
Zwei Blondinen führten Protokoll darüber, welche Parzellen vertreten waren. Frau Krause, Herr Kern, Günther Grass und ich setzten uns ganz nach hinten. Vier Vorstandsmitglieder nahmen ihren Platz auf der Bühne ein: der Mann im roten Pullover, Frau Engel und zwei weitere, mir unbekannte Frauen.
Der Mann im roten Pullover eröffnete die Sitzung. Er nannte die Anwesenden nicht Damen und Herren, Genossen und Genossinnen oder Brüder und Schwestern – er nannte uns »liebe Gartenfreunde« und fing mit Lob an.
»Aus meiner Sicht war dieses Jahr deutlich besser als andere Jahre davor!«, verkündete der rote Pullover. »Das Jubiläum ist uns gelungen, wir haben viele positive Reaktionen erhalten«. Dabei schaute der Redner kurz nach oben, als wären die positiven Reaktionen direkt vom Himmel gekommen.
Nach dem Lob kam die Kritik. Nach dem Jubiläum hatte der Vorstand beschlossen, mit dem Rest des Geldes ein paar Wege in den »Glücklichen Hütten I« mit Natursteinplatten auszulegen. Diese seien jedoch über Nacht verschwunden. Einige Gartenfreunde aus den »Glücklichen Hütten I« behaupteten gegenüber dem Vorstand, vereinzelte Natursteinplatten in Parzellen der »Glücklichen Hütten II« gesehen zu haben, wobei die dortigen Gartenfreunde behaupteten, ihre Natursteinplatten selbst vor langer Zeit gekauft zu haben. Im Konferenzraum wurde die Luft mit jeder Minute dicker. Auf jeden Fall ging man hier weit weniger diplomatisch vor als bei der UNO, obwohl die Probleme ähnlich gelagert waren. Der Natursteinplattenkrieg war der erste von vielen Kriegen der Gartenkolonie, die sich die »lieben Gartenfreude« gegenseitig lieferten. Es gab noch den Fahrradkrieg, den Leinenzwangkrieg und etliche andere.
Ein großes Problem stellten auch die so genannten Schurkenparzellen dar.
Diese Parzellen, gut zwei Dutzend an der Zahl, weigerten sich hartnäckig, ihre Wasseruhren auf den aktuellen Stand zu bringen, wie es alle anderen längst getan hatten. Bei siebzehn Parzellen zeigte die Wasseruhr noch immer den Stand von 1997, als hätten sie seitdem keinen Tropfen Wasser mehr verbraucht. Bei elf weiteren Gartenfreunden zeigte die Wasseruhr sogar einen Stand, dem gemäß der Verein ihnen sogar noch Geld schuldete. Ihre Wasseruhren gingen in die falsche Richtung. Niemand aus den Schurkenparzellen war bei der Versammlung anwesend. Der Wasseruhrenkrieg war alt, und die Schurken waren längst mit allen möglichen Embargos belegt worden. Sie bewegten sich
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