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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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überqueren, als eine Frau sie verblüffend energisch am Unterarm festhielt und sagte: »Haben Sie heute schon an den Himmel gedacht?«
    Die Frau fixierte Alice mit einem durchdringenden, starren Blick. Sie hatte langes Haar von der Farbe und Struktur eines zerrupften Topfkratzers, und sie trug ein selbst gebasteltes Schild vor der Brust, auf dem stand: AMERIKA BEREUE, KEHR UM ZU JESUS VON DER SÜNDE. Auf demHarvard Square gab es immer irgendwelche Leute, die Gott verkauften, aber Alice war noch nie so unmittelbar und direkt angesprochen worden.
    »Entschuldigung«, sagte Alice und floh, sobald sie eine Lücke im Verkehrsfluss sah, auf die andere Straßenseite.
    Sie wollte ihren Weg fortsetzen, aber stattdessen blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie wusste nicht, wo sie war. Sie sah zurück über die Straße. Die Frau mit dem Topfkratzer-Haar folgte einem anderen Sünder den Korridor hinunter. Der Korridor, das Hotel, die Geschäfte, die unlogisch verzweigten Straßen. Sie wusste, dass sie auf dem Harvard Square war, aber sie wusste nicht, in welcher Richtung ihr Zuhause lag.
    Sie versuchte es noch einmal, diesmal etwas genauer. Das Harvard Hotel, Eastern Mountain Sports, Dickson Brothers Hardware, Mount Auburn Street. Sie kannte all diese Orte – dieser Platz war seit über fünfundzwanzig Jahren ihr Revier –, aber irgendwie passten sie nicht in einen geistigen Stadtplan, der ihr sagte, wo sie relativ zu ihnen wohnte. Ein schwarzweißes, kreisförmiges »T«-Schild genau vor ihr zeigte einen Eingang zu den unterirdischen Zügen und Bussen der Red Line an, aber am Harvard Square gab es vier solcher Eingänge, und ihr wollte nicht einfallen, um welchen der vier es sich hier handelte.
    Ihr Herz begann zu rasen, ihr brach der Schweiß aus. Sie sagte sich, dass ein beschleunigter Herzschlag und Schwitzen eine erwartbare und angemessene Reaktion auf das Laufen waren. Aber während sie still auf dem Gehsteig verharrte, empfand sie es als Panik.
    Sie zwang sich, einen Block weiter zu gehen und dann noch einen, auf butterweichen Beinen, sodass sie bei jedem verwirrten Schritt das Gefühl hatte, als würden sie vielleicht gleich unter ihr nachgeben. The Coop, Cardullo’s, die Lagerhäuser an der Ecke, das Cambridge-Besucherzentrum auf der anderen Straßenseite und dahinter der Harvard Yard. Sie sagte sich,dass sie noch immer lesen und erkennen konnte. Nichts davon half ihr weiter. Es war alles aus dem Zusammenhang gerissen.
    Menschen, Autos, Busse und alle möglichen unerträglichen Geräusche schossen und schlängelten sich um sie herum und an ihr vorbei. Sie schloss die Augen. Sie horchte auf ihr eigenes Blut, das hinter ihren Ohren hämmerte und rauschte.
    »Bitte hör auf damit«, flüsterte sie.
    Sie schlug die Augen auf. Ebenso plötzlich, wie die ganze Umgebung sie verlassen hatte, fiel auf einmal alles wieder genau an seinen Platz. The Coop, Cardullo’s, Nini’s Corner, Harvard Yard. Sie begriff augenblicklich, dass sie an der Ecke links abbiegen und die Mass Ave nach Westen nehmen musste. Sie begann, müheloser zu atmen, fühlte sich nicht länger seltsam verloren, keine Meile von ihrem Zuhause entfernt. Aber eben noch war sie seltsam verloren gewesen, keine Meile von ihrem Zuhause entfernt. Sie ging, so schnell sie konnte, ohne zu laufen.
    Sie bog in ihre Straße ein, eine stille, baumgesäumte Wohnstraße ein paar Blocks zurückgesetzt von der Mass Ave. Mit beiden Füßen fest auf der Straße, das Haus in Sichtweite vor sich, fühlte sie sich schon weitaus sicherer, aber noch immer nicht vollkommen in Sicherheit. Sie hielt den Blick auf die Haustür geheftet, setzte einen Fuß vor den anderen und sagte sich, dass das Meer der Angst, das wild in ihr toste, austrocknen würde, sobald sie das Haus betrat und John sah. Falls er zu Hause war.
    »John?«
    Er tauchte in der Küchentür auf, unrasiert, die Brille auf seinen wirren Haarschopf hochgeschoben, und er sah wie der typische verrückte Professor aus in seinem Lucky-Gray-T-Shirt, ein rotes Eis am Stiel lutschend. Er war offenbar die ganze Nacht auf gewesen. Und wie sie vermutet hatte, begann die Angst von ihr zu weichen. Aber auch ihre Energie und ihre Entschlossenheit wurden zusammen mit der Angsthinausgespült und ließen sie so geschwächt zurück, dass sie sich nur noch in seine Arme fallen lassen wollte.
    »Hey, ich hab mich schon gefragt, wo du wohl steckst, ich wollte dir gerade eine Nachricht an den Kühlschrank kleben. Wie war’s denn?«, fragte

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