Mein Leben Ohne Gestern
sollte, aber die lauter werdende Stimme tat diese Idee kurzerhand ab und ließ keine Entschuldigung gelten. Sie überlegte, ob es ihr einfach egal sein sollte, aber die Stimme, die jetzt weiter tief in ihren Körper eindrang, in ihrem Bauch widerhallte, in jeder ihrer Fingerspitzen bebte, war zu kraftvoll und zu durchdringend, um ignoriert zu werden.
Warum ärgerte sie sich so darüber? Er steckte mitten in einem Versuch und konnte nicht einfach alles stehen und liegen lassen, um nach Hause zu kommen. Sie hatte sicher unzählige Male selbst in seiner Haut gesteckt. So lebten sie. So waren sie. Die Stimme schalt sie eine dumme Gans.
Ihr Blick fiel auf ihre Laufschuhe auf dem Boden neben der Hintertür. Laufen würde ihr guttun. Das war genau das, was sie jetzt brauchte.
Im Idealfall ging sie jeden Tag laufen. Seit vielen Jahren schon sah sie das Laufen, wie Essen oder Schlafen, alsabsolute tägliche Notwendigkeit an, und es war schon vorgekommen, dass sie selbst um Mitternacht oder in einem tosenden Schneesturm noch rasch eine Runde joggen ging. Aber in den letzten Monaten hatte sie vernachlässigt, was ihr sonst ein solches Grundbedürfnis war. Sie hatte einfach zu viel um die Ohren gehabt. Während sie sich die Schuhe zuband, redete sie sich ein, sie nicht mit nach Kalifornien genommen zu haben, weil sie gewusst hatte, dass sie keine Zeit dafür haben würde. Tatsächlich hatte sie schlicht vergessen, sie einzupacken.
Wenn sie von ihrem Haus in der Poplar Street loslief, folgte sie stets derselben Route – die Massachusetts Avenue hinunter, über den Harvard Square bis zum Memorial Drive, am Charles River entlang bis zur Harvard Bridge drüben beim MIT und wieder zurück – etwas über fünf Meilen, ein fünfundvierzigminütiger Rundlauf. Sie spielte schon lange mit dem Gedanken, den Boston-Marathon mitzulaufen, aber jedes Jahr entschied sie, dass sie, realistisch betrachtet, nicht die Zeit hatte, für eine solch lange Strecke zu trainieren. Vielleicht würde sie es eines Tages noch tun. Für eine Frau ihres Alters war sie glänzend in Form, und sie nahm an, dass sie noch bis weit in ihre Sechziger hinein mit voller Kraft würde laufen können.
Dichter Fußgängerverkehr auf den Gehsteigen und Autos, zwischen denen sie sich an Straßenkreuzungen immer wieder hindurchschlängeln musste, behinderten den ersten Abschnitt ihrer Laufstrecke die Massachusetts Avenue hinunter und über den Harvard Square. Der Platz war belebt, pulsierend vor gespannter Erwartung zu dieser Tageszeit an einem Samstag; Menschenmengen schoben sich weiter oder sammelten sich an Straßenecken, warteten an Ampeln auf Grün, vor Restaurants auf freie Tische, in Kinoschlangen auf Karten und in Autos in zweiter Reihe, auf eine unwahrscheinliche Lücke auf dem gebührenpflichtigen Parkstreifen hoffend. Die ersten zehn Minuten ihres Laufs erforderten ein hohes Maß an bewusster Konzentration auf die Umgebung, um durch all dashindurchzusteuern, aber sobald sie den Memorial Drive zum Charles River überquert hatte, konnte sie in ihrer Hochleistungszone in vollem Tempo durchstarten.
Der angenehme und wolkenlose Abend lockte viele Leute an den Charles River, und doch erschien es ihr hier weniger verstopft als auf den Straßen von Cambridge. Trotz eines ständigen Stroms von Joggern, Hunden und ihren Besitzern, Spaziergängern, Rollerbladern, Radfahrern und Frauen, die ihre Babys in Jogging-Kinderwagen vor sich herschoben, nahm Alice wie ein erfahrener Autofahrer, der dieselbe Strecke regelmäßig immer wieder fährt, ihre Umgebung nur noch undeutlich wahr. Während sie am Fluss entlanglief, achtete sie bald nur noch auf das Geräusch ihrer Nikes, die in einem synkopischen Rhythmus mit ihren Atemzügen auf dem Gehsteig auftrafen. Sie ging ihren Streit mit Lydia nicht noch einmal durch. Sie nahm ihren knurrenden Magen nicht wahr. Sie dachte nicht an John. Sie lief einfach nur.
Wie immer verfiel sie ins Schritttempo, sobald sie den John Fitzgerald Kennedy Park erreicht hatte, eine kleine Ecke mit gepflegten Rasenflächen, die an den Memorial Drive grenzten. Sie hatte wieder einen klaren Kopf, ihr Körper war entspannt und verjüngt, und sie begann, langsam nach Hause zu gehen. Der JFK-Park führte durch einen angenehmen, von Bänken gesäumten Korridor zwischen dem Charles Hotel und der Kennedy School of Government zurück zum Harvard Square.
Hinter dem Korridor stand sie an der Kreuzung Eliot Street und Brattle, im Begriff, die Straße zu
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