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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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mit lockigen Haaren, die Arme vor der Brust verschränkt, beide drauf und dran, sich wieder einmal in eine wohlbekannte, endlose Auseinandersetzung zu stürzen. Sie biss die Zähne zusammen und schluckte, entschied, es nicht zu tun.
    »Wir haben uns schon länger nicht mehr richtig gesehen, kannst du bitte versuchen, zu Hause zu sein?«, fragte sie stattdessen.
    »Ich weiß, ich werd’s versuchen.«
    Er küsste sie, und obwohl er es eilig hatte wegzukommen, verharrte er doch noch einen fast unmerklichen Augenblick länger in diesem Kuss. Würde sie ihn nicht besser kennen, hätte sie seinen Kuss vielleicht romantisiert. Sie hätte vielleicht voller Hoffnung dagestanden und gedacht, er bedeute: Ich liebe dich, ich werde dich vermissen . Aber während sie ihm nachsah, wie er allein die Straße hinunterhastete, war sie sich ziemlich sicher, dass er ihr soeben gesagt hatte: Ich liebe dich, aber bitte sei nicht sauer, wenn ich am Samstag nicht zu Hause bin .
    Früher gingen sie jeden Morgen zu Fuß zusammen zum Harvard Yard. Dieser gemeinsame Arbeitsweg war für Alice das Schönste an der Tatsache, dass sie kaum eine Meile von ihrem Zuhause entfernt und an derselben Hochschule arbeiteten. Bei Jerri’s legten sie immer einen Zwischenstopp ein – ein schwarzer Kaffee für ihn, ein Tee mit Zitrone für sie, eisgekühlt oder heiß, je nach Jahreszeit – und gingen dann weiter zum Harvard Square. Dabei sprachen sie über ihre Forschungsprojekte und Kurse, über Angelegenheiten an ihren jeweiligen Instituten, ihre Kinder oder Pläne für den Abend. Als sie jung verheiratet waren, hielten sie sogar Händchen. Sie genoss die entspannte Vertrautheit dieser morgendlichen Spaziergänge mit ihm, bevor die tagtäglichen Anforderungen ihrer Jobs und Ambitionen sie beide stressten und erschöpften.
    Aber jetzt gingen sie schon seit geraumer Zeit getrennt hinüber nach Harvard. Alice hatte den ganzen Sommer über aus dem Koffer gelebt, hatte an Psychologie-Konferenzen in Rom, New Orleans und Miami teilgenommen, und dazu saß sie in einer Prüfungskommission für die Verteidigung einer Doktorarbeit in Princeton. Im Frühjahr hatten Johns Zellkulturen jeden Morgen grausam früh nach Aufmerksamkeit in Form irgendeiner Art Spülung verlangt, und er traute keinem seiner Studenten zu, dass er sich zuverlässig darum kümmern würde. Daher tat er es selbst. An die Gründe vor dem Frühjahr konnte sie sich nicht erinnern, aber sie wusste, dass sie jedes Mal einleuchtend und nur vorübergehend zu sein schienen.
    Sie wandte sich wieder dem Aufsatz auf ihrem Schreibtisch zu, noch immer abgelenkt, aber inzwischen von einem Verlangen nach jenem nicht ausgetragenen Streit mit John über ihre jüngste Tochter, Lydia. War es denn zu viel verlangt, dass er sich wenigstens einmal hinter sie stellte? Sie ging den Rest des Aufsatzes rasch durch, nicht mit ihrer üblichen Gründlichkeit, aber es würde genügen müssen in Anbetracht ihres zerrissenen inneren Zustands und ihres Zeitmangels. Nachdem siemit ihren Kommentaren und Vorschlägen für eine Überarbeitung fertig war, steckte sie den Aufsatz in einen Umschlag und klebte ihn zu, schuldbewusst, da sie womöglich einen Fehler im Interpretationsansatz der Studie übersehen hatte, und sie verfluchte John dafür, dass er sozusagen durch sein Verhalten die Mustergültigkeit ihrer Arbeit kompromittiert hatte.
    Sie packte ihren Koffer um – sie hatte ihn nach ihrer letzten Reise nicht einmal ausgepackt. Sie freute sich darauf, in den kommenden Monaten weniger zu reisen. In ihrem Kalender für das Herbstsemester war nur eine Handvoll Gastvorträge vorgemerkt, und die meisten davon hatte sie auf Freitage gelegt, einen Tag, an dem sie nicht unterrichtete. Wie zum Beispiel morgen. Morgen würde sie in Stanford als Gastrednerin zur Eröffnung der Kolloquiumsreihe »Kognitive Psychologie« im Herbstsemester sprechen. Und danach würde sie Lydia treffen. Sie würde versuchen, sich nicht mit ihr zu zanken, aber sie wollte auch nichts versprechen.

    In Stanford fand Alice problemlos den Weg zur Cordura Hall an der Ecke Campus Drive West und Panama Drive. Mit ihrer Fassade aus Beton und weißem Stuck, dem Terrakottadach und den üppigen Grünanlagen erschien sie ihren Ostküstenaugen eher wie ein karibisches Badehotel als wie ein akademisches Gebäude. Sie war früh dran, aber sie wagte sich trotzdem schon hinein, dachte, sie könnte die Zeit nutzen, um sich in den stillen Hörsaal zu setzen und ihren Vortrag noch

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