Mein Leben Ohne Gestern
Redner, aber er litt dabei oft Angst und Qualen, und er bewunderte Alice’ Enthusiasmus dafür. Der Tod war ihm vermutlich nicht lieber, aber Spinnen und Schlangen mit Sicherheit.
»Danke, Gordon. Ich werde heute über einige der mentalen Prozesse sprechen, die dem Erwerb, der Organisation und dem Gebrauch der Sprache zugrunde liegen.«
Alice hatte die Quintessenz genau dieses Vortrags schon unzählige Male gehalten, aber sie würde es nicht gerade »Recyceln« nennen. Im Mittelpunkt des Vortrags standen tatsächlich die Hauptthesen der Linguistik, von denen sie viele selbst entdeckt hatte, und etliche ihrer Folien verwendete sie seit Jahren immer wieder. Aber sie war stolz darauf und sah es nicht als Schande oder Faulheit an, dass dieser Teil ihres Vortrags, diese ihre Entdeckungen, noch immer zutrafen und die Zeit überdauerten. Ihr Beitrag war wichtig und regte zukünftige Entdeckungen an. Außerdem bezog sie diese künftigen Erkenntnisse auf jeden Fall mit ein.
Sie sprach, ohne einen Blick auf ihre Unterlagen werfen zu müssen, entspannt und angeregt, mühelos. Dann, nach etwa vierzig Minuten des fünfzigminütigen Vortrags, blieb sie auf einmal stecken.
»Wie die Daten aufzeigen, erfordern unregelmäßige Verben einen Zugang zum mentalen …«
Sie kam einfach nicht auf das Wort. Sie hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was sie sagen wollte, aber das Wort selbst war ihr entfallen. Verschwunden. Sie wusste nicht, wie der erste Buchstabe lautete oder wie das Wort klang oder wie viele Silben es hatte. Es lag ihr nicht auf der Zunge.
Vielleicht war der Champagner schuld. Sie trank normalerweise nie vor einem Vortrag. Selbst wenn sie den Stoff in- und auswendig kannte, selbst in der ungezwungensten Umgebung wollte sie stets in geistiger Höchstform bleiben, vor allem für die Diskussionsrunde am Ende, die kontrovers sein und zu einem leidenschaftlichen, spontanen Wortgefecht führen konnte. Aber sie hatte niemanden kränken wollen, und sie hatte etwas mehr getrunken, als vermutlich gut für sie war, als sie wieder einmal in ein passiv aggressives Gespräch mit Josh verwickelt wurde.
Vielleicht lag es am Jetlag. Während ihr Verstand in allen Ecken und Winkeln nach dem Wort und einem rationalen Grund dafür suchte, weshalb es ihr entfallen war, begann ihr Herz zu rasen, und ihr Gesicht wurde ganz heiß. Ihr war noch nie vor einem Publikum ein Wort entfallen. Aber sie war auch noch nie vor einem Publikum in Panik ausgebrochen, und sie hatte schon vor weitaus größeren und beängstigenderen Gruppen gesprochen. Sie befahl sich, tief durchzuatmen, die Sache zu vergessen und mit ihrem Vortrag fortzufahren.
Sie ersetzte das Wort, das ihr noch immer nicht einfallen wollte, durch ein vages und unpassendes »Ding«, ließ den Punkt, den sie eben hatte ausführen wollen, fallen und ging zur nächsten Folie über. Die Pause war ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen, so offensichtlich und peinlich, aber als sie in den Gesichtern ihrer Zuhörer forschte, um zu sehen, ob irgendjemandem ihr geistiger Aussetzer aufgefallen war, schien niemand beunruhigt, verlegen oder in irgendeiner Weise irritiert. Dann sah sie, wie Josh der Frau neben sich etwas zuflüsterte, mit gefurchten Augenbrauen und einem leisen Lächeln im Gesicht.
Sie saß im Flugzeug, im Landeanflug auf LAX, als es ihr schließlich einfiel.
Lexikon .
Lydia lebte jetzt schon seit drei Jahren in Los Angeles. Wäre sie gleich nach der Highschool aufs College gegangen, dann hätte sie im letzten Frühjahr ihren Abschluss gemacht. Alice wäre so stolz gewesen. Lydia war vermutlich klüger als ihre beiden älteren Geschwister, und die waren auf dem College gewesen. Und hatten Jura studiert. Und Medizin.
Statt aufs College war Lydia erst einmal nach Europa gegangen. Alice hatte gehofft, sie würde mit einer klareren Vorstellung davon zurückkommen, was sie studieren und auf welche Universität sie gehen wollte. Stattdessen erklärte sie ihren Eltern bei ihrer Rückkehr, sie hätte ein bisschen geschauspielert, als sie in Dublin war, und sich verliebt. Sie würde sofort nach Los Angeles ziehen.
Alice flippte fast aus. Zu ihrer eigenen aufreibenden Frustration erkannte sie, auf welche Weise sie selbst dazu beigetragen hatte, dass dieses Problem entstanden war. Lydia war das jüngste von drei Kindern, die Tochter von Eltern, die viel arbeiteten und regelmäßig auf Reisen waren – und da sie stets eine gute Schülerin gewesen war, hatten Alice und John kaum darauf
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