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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Die Vergasung von Juden war also, Nolte zufolge, ein unritterliches Verhalten.
    Sind jene im Unrecht, die an der Zurechnungsfähigkeit dieses Gelehrten zweifeln? 1994, als Fest nicht mehr Herausgeber der »Frankfurter Allgemeinen« war, wandte sich die Zeitung entschieden von Nolte ab: Bei ihm spreche, hieß es, »der gesamte, im Wissen des Gelehrten gespeicherte Wahn des von ihm erforschten Zeitalters«. Ein Wahn ist es, der sich bisweilen in der unmittelbaren Nachbarschaft des Wahnsinns befindet. Aber wenn es auch Tollheit ist, so hat’s doch Methode – wie der Oberkämmerer Polonius im Gespräch mit Hamlet »beiseite« sagt.
    Es mag verwundern, daß ich einer so trüben, ja, verächtlichen Figur der deutschen Zeitgeschichte wie Ernst Nolte soviel Aufmerksamkeit widme. Doch nicht um ihn geht es hier, es geht um Joachim Fest, es geht um mich. In den Jahren unserer in vieler Hinsicht so erfreulichen und fruchtbaren Zusammenarbeit haben wir unzählige Gespräche geführt – auch und gerade über das »Dritte Reich« und alles, was mit ihm zusammenhängt. Wenn ich mich recht erinnere, hat Fest nie versucht, die nationalsozialistischen Verbrechen direkt zu rechtfertigen; und er hat es unterlassen, sie etwa zu verkleinern. Aber relativiert hat er sie sehr wohl und sehr oft. Er liebte es, unentwegt auf jene Massenmorde zu verweisen, die sich andere Diktaturen zuschulden kommen ließen. Der Satz »Stalin hat nicht weniger gemordet als Hitler« wurde zum Refrain vieler seiner Äußerungen.
    Hat Fest also deutsche Schuld mit den Verbrechen anderer verrechnen wollen? In der Theorie und im Prinzip war er natürlich dagegen. Doch nicht nur in seinen mündlichen Darlegungen fielen solche Vergleiche oft auf, sondern auch in dem Aufsatz, mit dem er Nolte verteidigt hat. Nichts charakterisiert seine Haltung deutlicher als die Tatsache, daß er diesen Artikel über deutsche Massenverbrechen mit einem Foto illustrieren ließ, das eine gigantische Schädelstätte zeigt. Die Bildunterschrift lautet: »Genozid vor aller Augen, und doch nicht im Bewußtsein der Welt: Kambodscha heute.«
    In unseren häufigen, beinahe täglichen Gesprächen habe ich immer wieder gegen derartige Ansichten Fests nachdrücklich protestiert, aber offenbar nicht nachdrücklich genug. Jedenfalls habe ich nichts erreicht: Auch die ärgsten und ruchlosesten Behauptungen Noltes konnten ihn nicht veranlassen, sich von ihm zu distanzieren. Schließlich erklärte Nolte – es war 1987 –, die »Endlösung der Judenfrage« sei nicht etwa ein Werk von Deutschen, vielmehr »ein Gemeinschaftswerk der europäischen Faschismen und Antisemitismen«. Er erklärte dies, obwohl doch weder der italienische noch der französische Faschismus Juden verfolgt hatte. War Noltes These auf Unwissenheit zurückzuführen oder haben wir es mit bewußter Verbreitung von Unwahrheit zu tun?
    Auch hierzu hat Fest geschwiegen. Ich konnte das nicht mehr ertragen, ich war entschlossen, es nicht hinzunehmen. Ich ging zu ihm und fragte, ob er Noltes Erklärung für akzeptabel halte. Nein, antwortete er nach einiger Überlegung, da ginge Nolte doch etwas zu weit. Ob er gegen diese offensichtliche Unwahrheit, die einer Geschichtsfälschung gleichkomme, protestieren werde? Ja, antwortete Fest, doch nicht jetzt, da es mißverstanden werden könnte, sondern erst in einem halben Jahr. Dies werde er, so versprach mir Fest, mit Sicherheit tun. Als das halbe Jahr verstrichen war, teilte er mir mit, er werde auf keinen Fall von Noltes Anschauungen abrücken. Die Begründung, die ich hören wollte, wurde mir verweigert. Wir, Fest und ich, haben dann jahrelang nicht mehr miteinander gesprochen. Den politischen und moralischen Konsens, der zwischen uns hinsichtlich des »Dritten Reichs« und der Folgen bestand, der meiner Arbeit in der »Frankfurter Allgemeinen« zugrunde lag, ja, sogar meiner ganzen Existenz in der Bundesrepublik – diesen Konsens hat Fest ohne Not, ja, mutwillig, zerstört.
    Eine Freundschaft, die mir viel, sehr viel bedeutet hat, war beendet. Daß Fest zugleich seinen Ruf, den er weitgehend dem glanzvollen Buch über Hitler verdankt, in hohem Maße beschädigt hat, war für mich kein Trost. Ich habe mich oft gefragt, worauf seine düstere Rolle im Historikerstreit zurückzuführen sei. Sollte er tatsächlich geglaubt haben, den Deutschen werde im Zusammenhang mit den nationalsozialistischen Verbrechen ein Unrecht angetan? Wäre also die Ursache in seinem Patriotismus zu finden, in

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