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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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Das Puzzle
    Es war das Jahr 2010. Für die meisten Menschen. Für manche
war es das Jahr 7518, andere schrieben das Jahr 50, wieder andere das Jahr
1010. All dieses zeitliche Dissidententum aber lag an jenem Winterabend in
Moskau noch vor mir. Es würde meinen Weg erst im Lauf eines langen Jahres
kreuzen, das gerade erst begonnen hatte und für das ich vorläufig nur die Zahl
2010 kannte.
    Es war einer jener Moskauer Abende, bei denen man im Nachhinein
nicht mehr sagen kann, an welcher Stelle sie die Grenze zwischen beiläufigem
Trinken und ernstem Besäufnis überschritten haben. Sascha und Wanja hatten von
ihrem vierten Gang zum Kiosk eine Flasche mitgebracht, die sie allein wegen des
Markennamens gekauft hatten: Tri starika stand auf
dem Etikett – »drei Greise«. Zu dritt stießen wir auf die Freuden des Alters
an. Nach dem ersten Schluck beschlossen wir, auf keinen Fall in Russland alt zu
werden. Sascha war in Hochform. Seine Trinksprüche wurden mit jedem Glas
länger, exzentrischer, philosophischer. Als wir von den drei Greisen etwa zwei
geleert hatten, sah er mich plötzlich ernst an.
    »Dieses Buch«, sagte er. »Wenn du wirklich über Russland schreiben
willst, dann musst du dir eine Sache einprägen. Hol dir was zum Schreiben.«
    »Sascha, so betrunken bin ich nicht, ich kann mir das auch merken …«
    »Hol dir was zum Schreiben!«
    Etwas in seinem Blick ließ mich gehorchen. Als ich mit Notizblock
und Stift zurück in die Küche kam, beugte sich Sascha über den Tisch und begann
zu diktieren: »Die rätselhafte russische Seele …«
    Ich stöhnte. Sascha richtete einen strengen Zeigefinger auf den
Notizblock. »Schreib!« Schulterzuckend setzte ich den Stift wieder an.
    »Die rätselhafte russische Seele …«, wiederholte er, während ich
mich kritzelnd dem Ende des Halbsatzes näherte, »… gibt es nicht.«
    Ich sah auf. Sascha verzog keine Miene. »Schreib! Es geht noch
weiter.«
    Als ich den Block am nächsten Morgen unter einem Berg schmutzigen
Geschirrs wiederfand, schliefen Sascha und Wanja noch. Ich kochte mir Kaffee,
um den Kater zu vertreiben, und entzifferte mit Mühe meine eigene Schrift:
     
    Die rätselhafte russische Seele gibt es
nicht.
    Die russische Seele ist nicht
rätselhafter
    als der morgendliche Kopfschmerz
    nach einem Besäufnis.
     
    In mein Leben trat Russland als Fälschung.
    Es war das Jahr 2000 (für die meisten Menschen). Eines Sommertags
rief mich eine Freundin an, Kristina, wir kannten uns aus der Uni. Kristina
stand kurz vor dem Abschluss, sie wollte Journalistin werden. In der Uni war
ihr ein Aushang aufgefallen:
    TV-Produzent sucht Praktikanten!
    Am Telefon hatte sich ein Mann gemeldet, der Kristina mit schwerem
slawischen Akzent in seine Wohnung einlud. Er sagte, er arbeite von zu Hause
aus. Kristina witterte eine Chance, traute der Sache aber nicht recht über den
Weg – ob ich zur Sicherheit mitkommen würde?
    Ein paar Tage später saßen wir in Juris Wohnzimmer. Er war Anfang
dreißig, ein schlaksiger, planlos gekleideter, auf verschrobene Art gut
aussehender Typ, der uns Beuteltee und russischen Konfekt servierte. Juris
Deutsch war gut, aber er sprach langsam, mit starkem Akzent und langen
Denkpausen, was seine Sätze ungewollt ernst klingen ließ. Wir hatten vielleicht
fünf Minuten gesprochen, als er uns an seinen Computer bat. Er wollte uns einen
Film zeigen, den er für einen deutschen Fernsehsender produziert hatte.
    »Russlands Millionäre haben alles, was man für Geld kaufen kann«,
raunte eine tiefe Sprecherstimme, während auf dem Bildschirm Geschäftsmänner in
dicken Autos an Sehenswürdigkeiten vorbeifuhren, die ich vage Moskau zuordnen
konnte. »Nur eins können sie nicht kaufen«, fuhr das Raunen fort: »Das
Unerwartete!«
    Die Kamera zoomte auf einen krawattierten Mittvierziger mit
abweisenden Gesichtszügen. »Igor S., Millionär«, erklärte ein Untertitel,
während die Sprecherstimme die russischen Sätze des Mannes synchronisierte:
»Ich bin in den Neunzigerjahren zu Geld gekommen. Da ging’s nicht immer ruhig
zu – Sie wissen schon.« Igor feuerte eine unsichtbare Pistole in Richtung
Kamera ab. »Aber diese Zeiten sind vorbei. Und wissen Sie was? Mir fehlt der
Kitzel von damals. Das Unberechenbare, das Abenteuer. Ich bin reich, aber mein
Leben ist grau geworden.«
    Für Menschen wie Igor, fuhr der Sprecher fort, sei nun in Moskau ein
exklusiver Club ins Leben gerufen worden, der seinen Mitgliedern gegen eine
horrende Beitrittsgebühr

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