Mein russisches Abenteuer
Eltern waren kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in die Taiga geflohen, aus
Angst vor dem Terror der Bolschewiken. Mit zwei kleinen Kindern waren sie
aufgebrochen, zwei weitere Kinder, darunter Agafja, kamen in der Wildnis zur
Welt. Mehr als vierzig Jahre lang hatte die Familie ohne jeden Kontakt zur
Außenwelt gelebt. Erst 1978 waren sowjetische Geologen zufällig auf die
altgläubigen Einsiedler gestoßen.
Agafja, die jüngste Tochter, war inzwischen die einzige Überlebende
der Familie. Wiederholt hatte man ihr nahegelegt, ihre Hütte in der Taiga
aufzugeben und in die Zivilisation überzusiedeln. Sie weigerte sich.
Es musste ein paar Jahre her sein, dass ich den Artikel
ausgeschnitten hatte. Ich konnte mich noch daran erinnern, dass ich an Juri
gedacht hatte, während ich den Zettel in der Schublade verstaute – es war eine
dieser russischen Geschichten, die so unglaublich klingen, dass sie nur wahr
sein können. Allerdings hatte ich damals keine Ahnung gehabt, was Altgläubige
sind. Inzwischen wusste ich es. Und damit bekam Agafja Lykowas Geschichte einen
völlig neuen Sinn.
In der nicht gerade blutarmen Geschichte Russlands war das
17. Jahrhundert eins der blutigsten. Ein bizarrer Religionsstreit spaltete das
Land: Man stritt über die Frage, ob das Kreuzzeichen mit zwei oder mit drei
Fingern zu schlagen sei. Der Moskauer Patriarch, der das Drei-Finger-Kreuz
befürwortete, verfolgte die Anhänger des Zwei-Finger-Kreuzes erbittert, er ließ
widerspenstigen Gläubigen die Hände abhacken und ihren Priestern die Zungen
ausreißen. Viele kamen den Verstümmelungen zuvor, indem sie sich kurzerhand
selbst den Daumen abschnitten, um nicht dreifingrig Gott lästern zu müssen.
Ganze Gemeinden verbarrikadierten sich in ihren Kirchen, steckten den Altar in
Brand und sahen zu, wie die Flammen ihre bis zuletzt zweifingrig gereckten
Hände zerfraßen.
Ausgelöst hatte den Streit ein Mann, der seinen ganzen zweifelhaften
Ehrgeiz daran setzte, den Lauf der Geschichte zu korrigieren. Patriarch Nikon,
Oberhaupt der russischen Orthodoxie, leitete um die Mitte des Jahrhunderts eine
Kirchenreform ein. Er berief sich auf die Ursprünge des orthodoxen Glaubens:
Die Russen hatten das Christentum im Jahr 988 aus Byzanz übernommen, als der
Großfürst von Kiew seine Untertanen nach griechischem Ritus taufen ließ. Im
Lauf der Jahrhunderte war geschehen, was geschehen musste: Nach und nach
entwickelte die russische Orthodoxie eigene, ungriechische Züge, entstanden
teils durch Fehlübersetzungen griechischer Kirchentexte, vor allem aber durch
die alltägliche Glaubenspraxis. Kein Russe empfand diese Eigenheiten als Verrat
an den orthodoxen Wurzeln. Allein Patriarch Nikon war peinlich berührt, wenn er
im Kreml griechische Würdenträger empfing, deren Befremden über die Bräuche der
Russen ihm nicht entging.
Mit seiner Reform ließ Nikon die offensichtlichsten Abweichungen der
russischen Liturgie von der griechischen korrigieren. Auf den ersten Blick
waren es Kleinigkeiten: Die Dreifaltigkeit war nicht mehr mit zwei Hallelujas
zu preisen, sondern mit dreien; der Name des Herrn war um einen Buchstaben zu
ergänzen, Iisus statt Isus; nicht sieben Brote, sondern nur noch eins sollte
beim Abendmahl auf dem Altar liegen; das Kreuzzeichen schließlich war nicht
mehr mit zwei Fingern zu schlagen, sondern mit dreien, wie es die Griechen
taten.
Möglicherweise wären diese Eingriffe klaglos hingenommen worden –
wenn nicht zur gleichen Zeit viel einschneidendere Veränderungen über Russland
hereingebrochen wären. Das lange isolierte Land öffnete sich gen Westen. Dinge
tauchten auf, die es in Russland vorher nicht gegeben hatte. Tabak, Tee und
Kaffee. Gestutzte Bärte. Heiligenbilder, auf denen man die Heiligen kaum
erkannte, weil sie so fremdartig gemalt waren. Ausländer, vom Zaren gerufen, um
das Land zu modernisieren, brachten fremde Sitten nach Russland, fremde
Sprachen – und fremde Apparate. Am Hauptturm der Kremlmauer tauchte eine
riesige mechanische Uhr auf, aus England, die erste in ganz Russland. Ihre
Botschaft war unmissverständlich: Die Zeiten änderten sich.
Alle diese Umwälzungen hatten mit Nikons Reformen eines gemeinsam:
Sie ließen Russland schlecht aussehen. Viele Russen wollten nicht wahrhaben,
dass die Bräuche ihrer Väter plötzlich weniger wert sein sollten als die
Erfindungen von Ausländern, seien es englische Uhren, holländische Gemälde,
deutsche Bücher oder griechische Kirchenregeln. Die
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