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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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schneebedeckten Flusses ab. Erst als ich näher kam, wurden sie zu
menschlichen Silhouetten. Es waren Eisfischer. Zu Hunderten hockten sie reglos
neben ihren Bohrlöchern.
    Wieder stand ich vor einer jener Trennlinien, die Europa in ein
trügerisches Drinnen und Draußen scheiden. Westlich des Dnjepr wurde das Land,
das heute Ukraine heißt, im Lauf der Jahrhunderte meist von europäischen
Mächten regiert, während der Osten, Kiew eingeschlossen, meist zu Russland
gehörte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden beide Landstriche zu einer
Sowjetrepublik verkuppelt. Gemeinsam hatten sie sich nach 46-jähriger
sozialistischer Ehe unabhängig erklärt. Später erst begannen die beiden
ungleichen Gatten, über ihre Herkunft zu streiten, über ihre Verwandtschaft zu
Europa und Russland. Seit erste Scheidungsdrohungen in der Luft liegen,
markiert der Dnjepr im Groben die Grenze, an der die Ukraine ihren Ehekrach
austrägt.
    Das aber war nicht der Grund, warum meine Reise hier beginnen
musste. Ich suchte nach den Spuren einer viel älteren Grenze. In Kiew hat
Russlands Erzählung begonnen. Hier, an den Ufern des Dnjepr, ist das Land aus
dem Nebelreich des Mythos aufgetaucht, um in die klarer konturierten Bahnen der
Geschichte einzutreten.
    Ich versuchte, es mir vorzustellen: Ein Tag im Jahr 988, vielleicht
ein Frühlingstag, vielleicht aber auch ein beißend kalter Wintertag wie heute,
möglicherweise hatte man Löcher ins Eis des Dnjepr brechen müssen. Die
Jahreszeit ist nicht überliefert, wohl aber, dass Fürst Wladimir von Kiew die
Zwangstaufe seiner Untertanen persönlich überwachte.
    Als Herrscher eines jungen Reichs, der Kiewer Rus, hatte Wladimir
kurz zuvor entschieden, die heidnische Vielgötterei seiner Untertanen durch
eine zeitgemäßere Staatsreligion zu ersetzen. Er sandte Kundschafter aus, um
mehr über die modischen Monotheismen zu erfahren, mit denen sich die umliegenden
Reiche schmückten. Den Islam verwarf er sofort, als er von der Alkoholabstinenz
der muslimischen Bolgaren erfuhr: »Das Trinken ist die Freude der Rus«,
erklärte Wladimir. »Ohne das können wir nicht sein!« Das Judentum der
nomadischen Chasaren kam dem Fürsten wenig staatstragend vor, und in den
Kirchen der katholischen Deutschen hatten seine Kundschafter »keinerlei
Schönheit« entdecken können. Ganz anders dagegen klang, was Wladimirs Emissäre
über die Gotteshäuser von Byzanz berichteten: »Wir wissen nicht, ob wir auf
Erden waren oder im Himmel, denn auf Erden gibt es solchen Anblick und solche
Schönheit nicht. Nur das wissen wir, dass dort Gott unter den Menschen weilt,
und ihr Gottesdienst ist besser als bei allen anderen Völkern.«
    So war es der Christengott, in seiner griechischen, orthodoxen
Erscheinungsform, für den sich Wladimir entschied. Die alten heidnischen
Holzgötzen, an deren Bäuchen noch das Fett der letzten Speiseopfer geglänzt
haben muss, ließ der Fürst ausgraben und in den Dnjepr werfen. Ich fragte mich,
ob er mit Stolz zugesehen hatte oder mit Skrupeln, als das Pantheon der
gestürzten Slawengötter an ihm vorübertrieb, Perun und Chors, Daschbog und
Stribog, Semargl und Mokosch, mit ihren hölzernen Leibern und silbernen Köpfen
und goldenen Schnurrbärten.
    Dann kam der Tag, von dem es heißt, dass der Teufel vor Verzweiflung
stöhnte, weil das Volk der Rus sich geschlossen von ihm abwandte. Wladimir ließ
seine Untertanen am Ufer des Dnjepr versammeln. Niemand verstand die
griechischen Taufgebete, mit denen die eigens aus Byzanz angereisten Priester
das Sakrament begleiteten. Hatte man, fragte ich mich, die Menschen am Ufer nur
tropfenweise mit Flusswasser besprengt, oder war tatsächlich das gesamte Volk
in den Dnjepr gestiegen, jubelnd und entkleidet, wie es später auf den Ikonen
dargestellt wurde?
    Ich suchte das Flussufer ab und versuchte, die Geschichte zu
beleben. Aber mir war kalt, meine Konzentration ließ nach, und ich spürte, wie
Russlands Anfänge vor meinen Augen in ihre tausendjährige Vergangenheit
zurückwichen. Weit oben über dem Flussufer stand Fürst Wladimir auf den Hügeln,
überlebensgroß, ein Neonkreuz in der ausgestreckten Kupferhand, aber seine Pose
wirkte leblos, eine staatstragende Verkörperung des 19. Jahrhunderts,
nachträglich illuminiert. Längst stand diese Statue nicht mehr auf russischem
Boden, längst hatten sich Russlands Grenzen ostwärts verschoben, und vom
Gründungsmythos des Landes, so schien es mir nun, war nur die gehaspelte
Antwort übrig

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