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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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Takt des
Kirchenkalenders. Morgen für Morgen bestimmte Agafja, welcher Heilige, welche
Ikone gefeiert wurde, welche Liturgie zu beten war. In den vier Jahrzehnten
ihrer Isolation ging den Einsiedlern nicht ein einziger Tag verloren.
    Im Jahr 7486 nach der Erschaffung der Welt, als Ostern auf den 30.
April fiel, 1978 Jahre nach Christi Geburt, begann eines Tages der Himmel zu
dröhnen. Eine stählerne Libelle zog über die Hütte der Lykows hinweg, groß und
dunkel und niedrig. Eine Weile schwebte sie bewegungslos über dem Kartoffelacker,
dann näherte sie sich der Hütte, das Dröhnen war ohrenbetäubend. Als die
Libelle verschwand, wussten die Lykows, dass man sie entdeckt hatte.
    Ein paar Tage später hörte Agafja seltsame Tierlaute im Wald. Sie
lief nach Hause und sagte es dem Vater. Der Vater horchte. Hunde, sagte er
stirnrunzelnd. Agafja hatte nie einen Hund gehört.
    Als das Bellen näher kam, mischte es sich mit Stimmen. Dann traten
vier Menschen aus dem Wald, drei Männer und eine Frau. Ein paar Sekunden lang
standen sich die Geologen und die Einsiedler wortlos gegenüber, die einen
voller Neugier, die anderen voller Furcht, beide irritiert von der merkwürdigen
Kleidung, die die anderen trugen.
    Wer seid ihr?, fragten die Geologen.
    Wahre Christen, antwortete Karp Lykow.
    Nach ein paar befangenen Minuten begann ein Gespräch. Erst
ungläubig, dann erleichtert stellten die Altgläubigen fest, dass die
unerwarteten Besucher ihnen nichts Böses wollten.
    Der erste Gegenbesuch fand nach wenigen Tagen statt. Mit Körben
voller Kartoffeln und Zirbelkernen tauchten die Lykows im Geologenlager auf.
Alle Versuche, ihnen Gegengeschenke zu überreichen, wehrten sie kopfschüttelnd
ab – es ist uns nicht erlaubt, sagten sie. Auch die Arbeitsgeräte der Geologen
musterten sie misstrauisch. Erst, als ihnen der Stationsleiter den Sinn der
Erzbohrungen erklärte, nickten sie voller Verständnis. Seit vierzig Jahren
verwendeten sie dieselben abgenutzten Werkzeuge. Niemand musste ihnen die
Bedeutung von Eisen erklären.
    Eine Art Freundschaft entstand. Mit der Zeit verloren die Lykows
ihre Scheu. Noch immer nahmen sie keine Lebensmittel an, aber sie ließen sich
Stoffe schenken, Gummistiefel, eine Axt, zwei Ziegen. Das wichtigste Geschenk
aber war die Neuigkeit, dass den Altgläubigen offenbar keine Verfolgung mehr
drohte – zum ersten Mal seit drei Jahrhunderten.
    Drei Jahre nach der Entdeckung der Familie begann Dmitrij eines
Tages zu husten. Er arbeitete weiter – es war Herbst, die Kartoffeln mussten
geerntet werden. Der Husten wurde schlimmer. Ein paar Tage lang lag Dmitrij bewegungslos
auf seiner Pritsche, dann war er tot. Zweieinhalb Monate später starb Sawwin,
zehn Tage nach ihm Natalja. Auch Agafja wurde krank, sie war sicher, dass sie
keine Woche mehr zu leben hatte. Aber nach ein paar Tagen ließ der Husten nach.
    Von den Lykows blieben nur der alte Vater und seine jüngste Tochter
übrig. Gemeinsam hoben sie drei Gräber aus. Sie warteten das Ende des Winters
ab, dann packten sie ihre Sachen und zogen um, zurück an den Jerinat, wo das
Leben leichter war als in den Bergen. Agafja war 36, als sie an den Ort ihrer
Geburt zurückkehrte. Es war der zweite und letzte Umzug ihres Lebens.
    Auf dem Hinweg, während unserer Wanderung durch die Taiga,
hatte Ljonja mir von einem zweiten Einsiedler erzählt, einem Nachbarn von
Agafja. Seine Hütte stand ein paar hundert Meter weiter stromabwärts. Erst am
zweiten Tag kam ich dazu, ihn zu besuchen.
    Als Jerofej mir die Tür öffnete, muss ich ihn ziemlich verblüfft
angesehen haben, obwohl Ljonja mich vorbereitet hatte. Vor mir stand ein
breiter, bärtiger Mann um die sechzig, dem das rechte Bein fehlte. Er trug eine
Prothese aus sowjetischer Produktion, die eher wie ein Überbleibsel der
Zarenzeit aussah – ein Piraten-Holzbein. Grinsend genoss Jerofej den
Überraschungseffekt. Dann bat er mich in die Hütte, wo er seinen massigen
Körper krachend in einen Sessel fallen ließ. Er sah aus wie ein gutmütiger,
einbeiniger Bär.
    Vor seinem Unfall hatte Jerofej als Bohrmeister in der
Geologensiedlung gearbeitet, wie Ljonja. Er erinnerte sich noch genau an den
Tag, an dem ein paar seiner Kollegen erzählten, dass sie mitten in der Taiga
einen Kartoffelacker entdeckt hatten. Jerofej hielt es erst für einen Witz – er
hörte nicht zum ersten Mal Geschichten über unglaubliche Taiga-Funde. Wenig
später aber tauchten die Einsiedler leibhaftig bei den Geologen auf.

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