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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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Osterfest fiel auf den 6. Mai in jenem Jahr, nach eurem
Kalender war es der 23. April, und das Jahr nennt ihr 1945, doch seit der
Erschaffung der Welt waren 7453 Jahre vergangen …«
    Manchmal griff sie, während sie sprach, unvermittelt nach einem
ihrer Bücher. Sie wuchtete die jahrhundertealten Bände auf das
mondlichtbeschienene Fensterbrett, enthakte die Eisenbeschläge, schlug die
abgegriffenen Lederdeckel auf, fand mit wenigen Griffen die Stelle, die sie
gesucht hatte. Beim ersten Mal begriff ich erst nach ein paar Sekunden, dass
ihr Sprechgesang in tatsächlichen Gesang überging – die Veränderung war
minimal. Sie sang mir Liturgien vor, orthodoxe Gebete, wie man sie vor der
Kirchenspaltung gesungen hatte, kein Halleluja zu viel, keins zu wenig.
    Obwohl sie kaum einen Meter von mir entfernt saß, hockte ich mit
vorgebeugtem Oberkörper auf der Kante eines Holzschemels, den Notizblock auf
den Knien, bemüht, ihrem Gesang zu folgen. Meist schwebte mein Stift in dieser
ersten Nacht bewegungslos über dem Papier. Ich verstand wenig. Noch hatte ich
mich nicht eingehört in Agafjas Lied, in das scheinbar ziellose Treiben ihrer
Sätze, in ihre Art, die Wörter singend zu zerdehnen, Wörter, die ich nie gehört
hatte, weil kein Mensch außer ihr sie noch verwendete.
    Irgendwann legte ich den Notizblock beiseite und gab es auf, den
Worten einen Sinn abzuringen, ich hörte nur noch auf den Klang ihrer Stimme.
Allein dass sie sang, dass sie vor mir saß, dass es diese Frau überhaupt gab,
war mehr, als ich in einer Nacht begreifen konnte.
    Ljonja und Alexej schliefen schon, als ich die zweite Hütte betrat.
Ich rollte meinen Schlafsack auf einer Holzpritsche aus und kroch hinein. Über
meinem Kopf war ein winziges Fenster. Ich sah hinaus in die Nacht. Ein fast
voller Mond stand über den Bergen, sein Spiegelbild tanzte zitternd im Fluss.
Die Taiga kam mir plötzlich taghell vor. Unwirklich klar zeichneten sich die
Umrisse der Zirbelkiefern gegen einen Himmel ab, unter dem kein Mensch wach war
außer mir.
     
    »Karpowna! Was hast du da wieder angeschleppt?«
    Ljonja, Alexej und ich saßen beim Frühstück, als Agafja die Hütte
betrat. Lächelnd legte sie einen Laib Brot und eine Tüte Dörrpflaumen auf den
Tisch. Es war ein Ritual, mit dem in den folgenden Tagen jeder Morgen begann:
Lächelnd betrat Agafja die Hütte und brachte uns Geschenke mit, mal einen Sack
Kartoffeln, mal einen Korb Moosbeeren, mal eine Handvoll Zirbelkerne. Sie aß
nie mit uns, und auch alleine sah ich sie nie essen, ihre Mahlzeiten waren ein
streng gehütetes Geheimnis. Wenn sie uns beim Frühstück besuchte, sprach sie
mit uns, ohne sich zu setzen, sie blieb neben dem Tisch stehen.
    Ljonja griff nach der Tüte mit den Dörrpflaumen. Es war eine
verschweißte Plastikpackung, bedruckt mit bunten Buchstaben – irgendein
Besucher musste sie mitgebracht haben.
    »Karpowna, was sollen wir damit? Heb dir die Vitamine lieber für den
Winter auf.«
    Agafja lachte leise, als hätte Ljonja einen Witz gemacht. »Das esse
ich doch nicht. Da ist der Strichcode drauf.«
    Das Wort klang bizarr aus ihrem Mund – wie ein plötzlicher
Farbsprengsel in einem Schwarz-Weiß-Film.
    »Karpowna, sei nicht albern, der Strichcode tut dir nichts.«
    Wieder lachte sie. »Johannes hat geschrieben, dass es das Zeichen
des Satans ist. Früher war es ein anderes Zeichen, ein roter Stern, Vater hat
davon gesprochen. Dann waren es ein Hammer und eine Sichel. Jetzt ist es der
Strichcode.«
    »Agafjuschka, du suchst den Satan an der falschen Stelle.« Alexej
zupfte sich Brotkrumen aus dem Bart. »Der Satan versteckt sich, man kann ihn
nicht sehen. Weißt du, wo er sich versteckt? Im Fernseher! Ich erkläre es dir:
Da laufen 24 Bilder in der Sekunde. Aber manchmal sind es 25, oder 26, manchmal
sogar 31! So schnell kann man gar nicht gucken. Nur der Teufel weiß, was uns da
gezeigt wird.«
    Das Gespräch drehte sich noch eine Weile um die Verstecke des
Satans. Als Agafja schließlich die Hütte verließ, bat ich Ljonja und Alexej,
mir ein paar ihrer Sätze zu erklären, die ich schlecht verstanden hatte.
    »Was gibt es da zu erklären?« Ljonja sah mir in die Augen. »Glaubst
du, ich verstehe sie? Kein Mensch wird aus ihr schlau. Sie ist eine alte Frau.
Niemand weiß, was in ihrem Kopf vorgeht.«
     
    Agafjas Welt ist klein. Ihre östliche Grenze ist das Flussufer. Im
Westen liegt der Kartoffelacker, der sich in steilen Terrassen den Berghang
hinaufzieht, etwa hundert Meter
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