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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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entlang, noch tiefer in die Taiga.
    Als sich die Familie trennte, betete Karps Mutter zu Gott: Einen Sohn
hast du zu dir genommen, nun nimm auch meine anderen Kinder, nimm sie alle
neun, lass sie nicht leiden auf dieser Welt.
    In den Jahren, bevor der Krieg ausbrach, nahm Gott Jewdokim und
Stepan, Anastasija und Alexandra, Feoktista und Fionija, Anna und Darja. Nur
Karp Lykow nahm Gott nicht zu sich.
    Ein paar Jahre später brachte Karps Frau Akulina in der Taiga ihr
viertes Kind zur Welt. Agafja wurde am Ufer des Jerinat geboren, an der
gleichen Stelle, an der sie auch heute lebt.
    Kurz nach ihrer Geburt liefen die Lykows, nachdem sie jahrelang
keinem Menschen begegnet waren, am Flussufer zwei verirrten Grenzsoldaten über
den Weg. Die Männer erzählten vom Krieg gegen die Deutschen, der noch nicht
ganz vorbei war. Dann fragten sie Karp Lykow nach seinem Alter. Agafjas Vater
begriff, dass die Soldaten ihn für einen Deserteur hielten.
    Noch in derselben Nacht begannen die Lykows mit dem Bau einer neuen
Hütte, wieder ein Stück tiefer in der Taiga. Aus Angst, vom Fluss aus entdeckt
zu werden, rodeten sie diesmal eine Ackerfläche mitten im Wald, neun Kilometer
vom Ufer entfernt.
    Wieder ein paar Jahre später liefen Agafjas Geschwister beim Fischen
einer Gruppe von Anglern über den Weg, die sich beiläufig nach dem Alter der
Kinder erkundigten. Offenbar fragten sie sich, warum sie fernab der nächsten
Schule aufwuchsen. Danach stellten die Lykows das Fischen ein. Sie mieden das
Flussufer. Drei Jahrzehnte lang begegneten sie keinem Menschen mehr.
    Es war die härteste Zeit ihres Einsiedlerlebens. Die Ackerfläche,
die sie im Wald gerodet hatten, war so hoch gelegen, dass kein Getreide auf ihr
wuchs. Auch Erbsen gediehen nicht mehr, nur noch Kartoffeln und Zwiebeln und
Möhren. Ansonsten aßen die Lykows, was der Wald hergab: Pilze, Beeren, Wurzeln,
Kräuter, Farnblätter, Birkensaft. Sie hoben Tierfallen aus, in denen sich
manchmal ein Maral verfing, ein Wildschwein, ein Auerhahn. Das Fleisch kochten
sie und ließen es in der Sonne trocknen, für den Winter. Aus Kartoffeln und
zerriebenen Zirbelkernen backten sie Brot, ihre Kleidung nähten sie aus Hanf
und Flachs, ihre Schuhe aus Birkenrinde und Tierfellen.
    Als Agafja fünfzehn Jahre alt war, wachten die Lykows eines
Wintermorgens auf und fanden auf dem Boden ihrer Hütte eine Spur aus
angefressenen Körnern, die vor einem Spalt in der Außenwand endete. Ein
Nagetier war eingedrungen, über Nacht hatte es den Saatgutvorrat der Familie
aufgefressen. Im Sommer säten die Lykows aus, was übrig geblieben war. Im
Herbst brachten sie eine spärliche Ernte ein. Im Winter verhungerte Agafjas
Mutter. Auf dem Sterbebett bat sie ihren Mann, sechs Gräber auszuheben, für
jeden eins. Wenn das Ende kommt, sagte sie, legt euch in die Gräber, sterbt als
Christen. Als die Mutter tot war, begann der Vater mit den Brüdern zu graben.
Der Boden war so hart gefroren, dass sie es bei einem Grab beließen.
    Still vergingen die Jahre. Zu fünft lebten die Lykows weiter, sie
arbeiteten und beteten, sie beteten und arbeiteten. Manchmal sahen sie
Flugzeuge durch den Himmel ziehen, ohne zu wissen, dass es Flugzeuge waren.
Manchmal fielen ihnen nachts Sterne auf, die nicht ruhig auf der Stelle standen
wie alle anderen, sondern leuchtende Bahnen zogen – es waren die ersten
Satelliten, aber auch das erfuhren die Lykows erst später.
    Abgesehen von den Himmelserscheinungen blieb ihnen die Welt jenseits
der Taiga fern. Die beiden älteren Geschwister erinnerten sich nur schwach an
Kindheitsbegegnungen mit anderen Menschen, die beiden jüngeren, Dmitrij und
Agafja, hatten nie etwas anderes gesehen als ihr kleines Stück Wald. Der Vater
erzählte ihnen oft von der Welt, die er hinter sich gelassen hatte, aber auch
er wusste nicht, was aus dieser Welt geworden war.
    »Wir wussten nicht, ob von den Verwandten noch jemand lebt«, sagte
Agafja. »Wir wussten nicht, ob die Verfolgungen aufgehört hatten, ob es außer
uns noch Christen gab in der Welt.«
    Ihre Gebete sprachen die Lykows gemeinsam, die Arbeit teilten sie
sich auf. Sawwin, der älteste Sohn, war für das Brennholz zuständig, für das
Gerben der Tierfelle, das Nähen der Schuhe. Dmitrij, der jüngere, kümmerte sich
um die Fischerei, später um die Jagd. Natalja, die ältere Schwester, kochte und
nähte, Agafja bearbeitete den Gemüsegarten. Auch die Zeitrechnung gehörte zu
Agafjas Aufgaben. Die Jahre, Monate und Tage verstrichen im

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