Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
ihm wenigstens ein paar Brote für die Reise zu schmieren, abgelehnt hat. Für die Zukunft nimmt sie sich vor, beide ihren Weg gehen zu lassen. Auch wenn es nicht ihrer ist.
Ulrich, ihr Mann, hat von all dem nichts mitbekommen. Ihm fällt nur auf, dass sich Max bei seiner Ankunft vor zwei Tagen nicht hat schieben lassen und ihn nun den leichten Anstieg zum Bahnsteig ohne Einspruch machen lässt, die beiden Krücken quer über den Rollstuhl gelegt. Gemeinsam mit dem Schaffner bugsiert er Max in den Waggon und bleibt noch so lange stehen, bis der Zug verschwunden ist.
Max winkt ab, als ihm eine Mutter mit Kind den Behindertenplatz freimachen möchte. Stattdessen bleibt er im Rollstuhl sitzen und starrt aus dem Fenster. Kaum ist der Schaffner gegangen, dem er mit einem schiefen Lächeln seinen Schwerbehindertenausweis hingehalten hat, löst er die Bremsen und rollt zur Toilette. An der Tür verkanten sich die Vorderräder. Er braucht mehrere Anläufe, bis er drinnen ist. Während die Tür in Zeitlupe zugeht, läuft der kleine Junge aus dem Abteil den Gang entlang, ohne ihn wahrzunehmen. Max sieht ihm nach, als wäre er das Leben.
Er schließt ab und zieht sich vor der Kloschüssel hoch. Der Schniepel des Reißverschlusses seiner Jeans klemmt. Er bekommt ihn nicht rechtzeitig auf. Der Bund der Unterhose wird feucht. Noch während er pinkelt, rinnen Max Tränen aus den Augen. Mit einer Hand wischt er sie weg. Dabei gerät er ins Schwanken und kann sich gerade noch festhalten. Ohne nach hinten zu sehen, lässt er sich in den Rollstuhl fallen.
Halblaut flüstert er: » Kann ich nicht einmal aufs Klo, ohne mich vollzusauen?«
Als hätte ihm den Satz jemand ins Gesicht geschrien, fängt er an zu schluchzen. Er möchte sich wehtun mit solchen Sätzen. Nur so kann er ignorieren, dass es schon die ganze Zeit schmerzt. Täglich weist ihn sein Körper in die Schranken. Max fühlt sich darin wie in einem heruntergekommenen Gefängnis mit Aufpassern, die auf jeden Wunsch nach Hafterleichterung mit einer noch grausameren Strafe reagieren.
Warum hilft mir denn niemand?
Er weiß selbst nicht, an wen die Frage gerichtet ist.
3.
Anscheinend verleitet auch die Hoffnu n g Menschen zum größten Quatsch.
Wieder daheim, erzählt Max niemandem, dass er nicht mehr schwimmen kann. Nicht einmal seiner Schwester. Er bildet sich eh ein zu wissen, wie jeder seiner Freunde darauf reagieren würde. Wer einen schwachen Witz reißen würde oder sogar getröstet werden müsste. Schon öfter hat in solchen Situationen jemand zu weinen begonnen. Einige würden voller Bewunderung wiederholen, dass es großartig sei, wie er mit seinen Einschränkungen umgehe. Sie an seiner Stelle würden das nie so hinbekommen. Andere würden ihm zu einer Therapie raten. Er hat sich daran gewöhnt, auf dieselbe Aussage hin heilig gesprochen oder unter Beobachtung gestellt zu werden.
Solange es ihm gut geht, versucht er, es allen Recht zu machen und niemanden mit seinem körperlichen Niedergang zu überfordern. Wenn es ihm schlecht geht, schweigt er. Beides hat sich bewährt. Alle Trostversuche erstickt er im Keim, weil sie ihm zu deutlich vor Augen führen, wie trostbedürftig er eigentlich ist.
Max schaltet den Laptop ein, sein Fenster zur Welt. Auf Facebook schlägt ihm eine unbekannte Petra vor, möglichst ununterbrochen die universale Heilungszahl für seine Krankheit zu visualisieren: » Die 51843218«.
Im ersten Augenblick fühlt er sich geschmeichelt und überlegt, ob es sich bei der Zahlenfolge vielleicht um ihre Telefonnummer handelt. Aber wenn er sie wählen würde, hieße es bestimmt nur: Kein Anschluss unter dieser Nummer. Um sich nicht zu enttäuschen, lässt er es bleiben.
Eine Viertelstunde später klingelt das Telefon. Es ist jedoch nicht Petra, sondern Sylvia, die Schauspielerin. Bevor die Freundin aus gemeinsamen Theaterzeiten zu ihrem eigentlichen Anliegen kommt, erzählt sie, dass eine Zigeunerin sie aufgefordert habe, vier Wochen auf einer Lourdes-Wurzel zu schlafen, während sie für Sylvia beten würde. Für nur 83 Euro.
» Ich sag dir das nur, damit du weißt, dass selbst ich nicht alles mitmache. Warum ich eigentlich angerufen habe: Magst du zur Buchpräsentation von Helmut mitkommen? Der ist noch ganz neu im Heiler-Geschäft und braucht ein bisschen Unterstützung. Du hast doch so ein Faible für Existenzgründer.«
Zu ihrer beider Erstaunen sagt Max zu. Ohne sich darüber lustig zu machen. Trotzdem verspricht er sich insgeheim
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