Mein Traum wohnt nebenan
1. KAPITEL
„Und? Hast du schon mit ihm gesprochen?“
„Hmm?“ Cybil Campbell wandte den Blick nicht von ihrem Zeichenbrett. „Mit wem?“ fragte sie beiläufig und musste lächeln, als Jody Myers, ihre Nachbarin, gedehnt seufzte.
„Mit unserem tollen neuen Mitbewohner in 3B, Cyb. Er ist vor einer Woche eingezogen und hat noch mit niemandem ein Wort gewechselt. Komm schon, du weißt bestimmt mehr über ihn. Schließlich wohnt er genau dir gegenüber.“
„Ich war ziemlich beschäftigt.“ Cybil drehte sich kurz zu Jody um, die mit energischen Schritten durch den Raum ging. „Ich habe ihn kaum bemerkt.“
„Unsinn. Du bemerkst alles.“ Jody kam ans Zeichenbrett geschlendert, sah über Cybils Schulter und fand die blauen Linien nicht besonders spannend. „Er hat noch nicht mal seinen Namen auf dem Briefkasten. Und kein Mensch hat ihn tagsüber das Haus verlassen sehen. Nicht einmal Mrs. Wolinsky, und an der kommt garantiert keiner vorbei.“
„Vielleicht ist er ein Vampir.“
„Wow.“ Jody spitzte die hübschen Lippen. „Wäre doch cool, was?“
„Zu cool.“ Cybil unterteilte das Blatt in Kästchen, während ihre Freundin durchs Atelier tanzte und unaufhörlich redete. Es störte sie nicht. Im Gegenteil, sie hatte bei der Arbeit gern Gesellschaft. Genau deshalb lebte sie in New York in einem kleinen Haus mit einer Handvoll neugieriger Nachbarn.
„Bist du ihm denn noch nicht auf dem Flur begegnet?“
„Noch nicht.“ Cybil nahm einen Bleistift und tippte sich damit gegen die volle Unterlippe. „Aber Mrs. Wolinsky ist offensichtlich nicht mehr in Form. Ich habe nämlich gesehen, wie er tagsüber das Haus verließ. Ein Vampir ist er also nicht.“
„Wirklich?“ Jody zog einen Hocker zum Zeichenbrett. „Wann? Wo? Wie?“
„Wann? Im Morgengrauen. Wo? Er fuhr auf der Hauptstraße nach Osten. Und wie? Ich konnte nicht schlafen.“ Cybils Augen blitzten belustigt. „Ich stand am Fenster und habe ihn sofort bemerkt. Er ist nicht zu übersehen. Er ist groß. Und dann diese breiten Schultern …“
Beide Frauen lächelten.
„Jedenfalls hatte er eine Sporttasche bei sich und trug schwarze Jeans, dazu ein schwarzes T-Shirt, also wollte er vermutlich ins Fitness-Studio. Solche Schultern bekommt man nicht, wenn man den ganzen Tag herumliegt, Chips isst und Bier trinkt.“
„Aha!“ Jody erhob einen Zeigefinger. „Du bist also doch interessiert.“
„Immerhin bin ich eine lebendige Frau. Der Mann sieht großartig aus, wirkt irgendwie rätselhaft, und dazu der knackige Hintern …“
„Warum klopfst du nicht an seine Tür und bringst ihm ein paar von deinen selbst gebackenen Keksen? Dann kannst du …“ Sie verstummte und lauschte kurz. „Ich glaube, Charlie ist aufgewacht.“ Jody war allein erziehende Mutter eines acht Monate alten Jungen.
„Ich habe nichts gehört.“ Cybil wandte den Kopf zur Tür.
„Ich werde seine Windel wechseln und einen Spaziergang machen. Kommst du mit?“
„Kann nicht. Muss arbeiten.“
„Dann sehen wir uns heute Abend. Um sieben gibt es Essen.“
„Okay.“ Cybil lächelte, als Jody ins Schlafzimmer eilte, um ihren Sohn zu holen. Essen um sieben. Mit Jodys nervigem Cousin Frank. Wann würde Jody endlich aufhören, irgendwelche Begegnungen mit Männern zu arrangieren, um sie, Cybil unter die Haube zu bringen?
Vermutlich erst dann, wenn auch Mrs. Wolinsky aufgab. Und Mr. Peebles aus dem Erdgeschoss. Und die Frau aus der Reinigung. Warum waren bloß alle so darauf versessen, ihr einen Mann zu verschaffen?
Sie war vierundzwanzig, Single und glücklich. Natürlich wollte sie irgendwann eine Familie. Und vielleicht ein schönes Haus am Stadtrand. Mit einem Garten für die Kinder. Aber noch nicht. Im Moment gefiel ihr das Leben, wie es war.
Sie überlegte gerade, ob sie nicht doch mit Jody und Charlie ein wenig frische Luft schnappen sollte, als ihre Freundin ihr einen Abschiedsgruß zurief. Eine Sekunde später fiel die Wohnungstür ins Schloss.
Dann eben nicht.
Sie drehte sich wieder um und begann damit, die nächste Folge ihres Comicstrips „Freunde und Nachbarn“ zu Papier zu bringen. Ihre Eltern waren beide angesehene Künstler gewesen, und Cybil hatte von ihnen das Talent, die Liebe zu ihrem Beruf und die ruhige Hand geerbt.
Seit drei Jahren hatte ihr Comicstrip beständig an Beliebtheit gewonnen. Sie war stolz auf ihre Figuren, deren Alltag sie in lustigen oder nachdenklich stimmenden Erlebnissen beschrieb. Sie versuchte gar nicht erst, die
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