Mein wundervolles Genom
über uns denken und welche Rolle die Gene dabei einnehmen. Sie illustriert, wie stark der Drang ist, ein Leben vorhersagen, gestalten und nach unseren Vorstellungen optimieren zu können.
Aber wird all das je Realität werden? Kann das Genom die Kristallkugel sein, die uns verkündet, wie unser Leben sein wird? Kann die DNA der Weg zur Selbsterkenntnis und sogar die Straße zum Glück sein?
Ich möchte ein paar Antworten auf diese Fragen suchen und herausfinden, wo die Grenze verläuft, bis zu der wir unsere Zukunft erforschen – bis zu der ich meine Zukunft erforsche. Ich möchte wissen, wie sich eine Begegnung mit meiner DNA anfühlt, dem unsichtbaren digitalen Selbst, das zusammengerollt wie ein Fötus in jeder Zelle meines Körpers schlummert.
1 Der leichte Weg zu unseren Codonen
Lernen Sie Ihre DNA kennen. Sie brauchen nur ein bisschen Speichel.
Website von 23andMe
»Da ist er – er ist es wirklich!«
Der Mann neben mir verdreht die Augen und nickt mit dem Kopf in Richtung eines alten, seltsam gebeugten Herrn, der langsam über den Rasen auf uns zukommt. Es ist James Watson; um ihn zu treffen, bin ich zu dieser Tagung am Cold Spring Harbor Laboratory außerhalb von New York gekommen. Er trägt einen grasgrünen Pullover und einen knallroten Buschhut.
»Big Jim!«, sagt mein Gesprächspartner mit breitem Lächeln. »Wenn Sie mit ihm sprechen wollen, müssen Sie aufdringlich sein. Er ist sehr gesprächig, jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt, aber im Umgang mit Reportern kann er ziemlich launisch sein.«
Das ist verständlich. Watson, der zusammen mit seinem Kollegen Francis Crick 1953 die chemische Struktur des DNA-Moleküls entdeckte, hat ein annus horribilis hinter sich. 2007 verhedderte er sich bei einer Lesereise in Großbritannien, bei der er seine jüngste Autobiografie Avoid boring people vorstellte, in der Medienmaschinerie und verlor einen Teil seines Glanzes als Nobelpreisträger: In einem Interview mit der Sunday Times hatte er gesagt, er sehe die Zukunft des afrikanischen Kontinents düster, weil die Schwarzen weniger intelligent seien als die übrige Weltbevölkerung. Er wünsche zwar, dass alle gleich seien, habe aber festgestellt: »Menschen, die mit schwarzen Beschäftigten zu tun haben, finden, dass das nicht stimmt.« Außerdem brachte er noch dieBemerkung unter, nach seiner Meinung sei es ganz in Ordnung, wenn eine werdende Mutter einen Fötus abtreiben lasse, bei dem ein pränataler Test eine Neigung zu Homosexualität gezeigt habe. Warum sollte das nicht in Ordnung sein? Eine solche Entscheidung sei ganz allein Sache der Eltern. 1
Ähnliche Auffassungen hatte Watson früher schon geäußert, aber nun standen sie schwarz auf weiß in einer großen Zeitung, und da waren sie nicht mehr zu tolerieren. Einige wenige Wissenschaftler versuchten Watson zu verteidigen und seine Äußerungen zu erklären, doch die Lesereise wurde abgebrochen. Der Nobelpreisträger kehrte heim in sein Labor in Cold Spring Harbor, wo er sich seit 1968 gemütlich und sicher auf dem Direktorenposten eingerichtet hatte.
Doch der Aufruhr legte sich nicht. Bald nach seiner Rückkehr veröffentlichte ein zerknirschter Watson eine Entschuldigung mit eingebautem Dementi – man habe ihn missverstanden, Schwarze seien natürlich großartige Menschen –, aber die Proteste gingen weiter. Schließlich schritt der Verwaltungsrat des Labors ein. Der neunundsiebzigjährige Watson akzeptierte die Versetzung in den Ruhestand und den Status eines Emeritus. Hinausgeworfen wurde er nicht; weiterhin sitzt er in dem holzgetäfelten Kanzlerbüro mit einer Sekretärin im Vorzimmer, die wie ein Drachen über seinen Terminkalender wacht. Und weiterhin schlurft er über die Rasenflächen und ergänzt seine Rolle als Vater der Genetik mit einer Leidenschaft für Tennis.
»Der unangenehmste Mensch, dem ich je begegnet bin«, soll der bekannte Evolutionsbiologe E. O. Wilson einmal über Watson gesagt haben. Denn wenn der alte Mann nicht als Rassist bezeichnet wurde, nannte man ihn einen »Sexisten«. Er stand im Ruf, keine Doktorandinnen in seine Forschungsgruppe aufzunehmen und Bemerkungen der Art fallen zu lassen, dass es eine hervorragende Erfindung wäre, wenn man durch ein wenig Genmanipulation dafür sorgen könnte, dass künftige Frauengenerationen ausnahmslos hübsch wären. 2
Mit diesen Gedanken im Hinterkopf wappne ich mich und marschiere, den Notizblock in der Hand, hinter Dr. Watson her.
»Was wollen Sie?«, fragt er
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