Meine 500 besten Freunde
EIN TISCH IN DER MITTE
Wir saßen damals oft im Borchardt. Ein paar Jahrzehnte später waren wir tot, aber wir saßen oft im Borchardt damals und hielten das alles für sehr wichtig. Dass wir einen Tisch in der Mitte bekamen – einen der guten Tische, die nicht jeder bekommt –, dass wir mit ausgesuchter Höflichkeit von den Kellnern behandelt wurden, dass man uns hier und da ein Kompliment machte, das alles genossen wir sehr. Ich würde gerne sagen, dass Eva es mehr genoss als zum Beispiel ich, aber das wäre gelogen. Sie genoss es aber auch nicht weniger. Manchmal, wenn ich zur verabredeten Zeit ankam, mir den Mantel abnehmen ließ und mit einem raschen Blick den großen Raum durchmaß, und wenn ich sie dann wieder einmal schon dort sitzen sah, wie sie mir mit ihrem kleinen aufgemunterten Gesicht aus der Mitte zuwinkte, manchmal hatte ich da das Gefühl, vielleicht brauchte sie es mehr.
Eva war klein, atemlos und drollig. Ich mochte sie, weil sie klein, atemlos und drollig war. Ich kann nicht sagen, dass ich sie mochte, weil sie Mäntel mit echten Pelzkrägen trug, die sie aufzustellen pflegte, als stünde sie an einem zugigen Bahnsteig in Moskau und der Zar wäre eben tot. Ich mochte sie auch nicht für ihre Stimme, die immer so klang wie durchs Telefon, hoch und dünn und etwas gequetscht. Und ich mochte sie nicht für ihre Art, mir immer und in allem recht zu geben. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass es eine Weile dauerte, bis ich es bemerkte. Vorher hatte ich sie einfach sehr sympathisch gefunden und mich gefreut, dass wir so mühelos in allen wichtigen Dingen einer Meinung waren. Nach einem Test, bei dem ich bei irgendeinem Thema einfach so, mittendrin, die Meinung änderte, eben noch für, auf einmal vehement gegen etwas war, und sie mir auch dabei folgte, als wäre nichts gewesen, verlor sie ein bisschen an Ansehen, aber ich mochte sie doch weiter. Es war nicht leicht, damals in Berlin Freunde zu finden. Von Freundinnen gar nicht erst anzufangen.
Auch an diesem Abend war sie vor mir da. Sie saß an einem der Tische in der Mitte, eine kleine Person, die beinahe versank in ihrem großen Mantel, der in meiner Erinnerung wieder einen Pelzkragen hat, obwohl das kaum so gewesen sein kann, denn es war Mai. Ich folgte dem Kellner, der mich an meinen Platz brachte. »Hallo«, sagte sie und legte den Kopf schräg, als hätte sie eine Frage gestellt. »Hallo«, sagte ich, »wie geht’s?« Sie guckte misstrauisch, obwohl sie doch lächelte, ließ mich nicht aus den Augen, als hätte sie Angst, ich könne mich über sie lustig machen und sie würde es nicht bemerken. Sie schien gehetzt. Als müsse sie gleich wieder weg. Oder als habe sie eben etwas Schreckliches erfahren. »Alles in Ordnung?«, fragte ich. »Ja klar«, zirpte sie und fragte dann schnell viele Fragen auf einmal, wie es mir gehe, ob ich gesehen habe, Soundso seien auch hier, wie es Julia und dem Baby gehe, alles in betont lässigem Nebeseiabenbei, aber so schnell herausgefeuert, als gelte es, das Gegenüber auf Abstand zu halten. Zeit zu gewinnen. Sie wirkte nervös. Und so verloren in diesem großen Mantel, der vielleicht einen Pelzkragen hatte und vielleicht nicht.
»Was trinken wir?« Ich war für Gin Tonic, denn der Abend war jung, und so wollte ich mich fühlen. Eva sagte, Gin sei nichts für sie, sie nähme etwas anderes, was, daran kann ich mich nicht erinnern, und dann guckte sie wieder so von schräg unten, als vermute sie, ich verschweige ihr etwas. Wie es ihrem Sohn gehe, fragte ich. Und während sie mir erzählte, wie sehr er sich immer noch über das Geschenk freue, das ich ihm zu seinem Geburtstag gemacht hatte – Bettwäsche mit den Planeten des Sonnensystems, die im Dunkeln leuchten sollten, das aber nicht taten, wie sie sagte (was aber, wie sie sich hinterherzuschicken beeilte, gar nichts mache) – während sie dies erzählte, schälte sie sich aus dem Mantel und brachte ein abenteuerlich kleines schwarzes Etwas zutage, das vor ihrem riesenhaft unter dem Kinn hervorragenden Dekolleté mühsam mit einer kleinen Kordel zusammengebunden war. Wir bestellten. Als der Kellner gegangen war, entstand eine Pause, die länger dauerte, als angenehm gewesen wäre. Sie schien keine Frage stellen zu wollen, nicht einmal nach meiner Tochter, deren Patentante sie doch war. Ich war unsicher und versuchte meinerseits mit Fragen zu unserer gewohnten Form zurückzufinden. Wie lief es in der Arbeit? Was machte ihre Affäre mit diesem
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