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Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Titel: Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vlada Urosevic
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und ich über den Hinterhof auf die Straße. Auf dem Pflaster lagen ein weggeworfener Schirm, ein Damenschuh mit abgebrochenem Absatz, irgendwelche Briefe, ein Puppenkopf, ein Löffel. Aus einer aufgeschlitzten Matratze quoll die Stopfwolle hervor.
    Emilia entschied sich für den Puppenkopf, wischte den Staub ab und nahm ihn mit. Sie blieb einen halben Schritt hinter mir, ein folgsames kleines Mädchen, das sich zwar dem Willen eines Älteren unterwirft, aber dennoch entschlossen ist, ihm durch sein Verhalten seine Ebenbürtigkeit zu beweisen.
    Die Pferde waren noch immer da, wo ich sie am Tag zuvor entdeckt hatte. Das eine Pferd lag mit den Hinterbeinen auf der Straße und mit dem Kopf im Rinnstein. Der Kopf des anderen hingegen lag auf dem Bürgersteig. Ein Auge schien uns voll irrer Verzweiflung anzustarren. Als wir näherkamen, sah ich, dass sich in der hervortretenden Wölbung des Auges das gezackte Laub der Bäume und das weiße Spitzengewebe der Wolken spiegelten, so ähnlich wie bei den Glaskugeln, die auf lange Stäbe gesteckt in manchen Gärten standen. Emilia rupfte eine große weiße Blume aus einem benachbarten Garten und legte sie darauf.
    Damit verlor das Auge des toten Pferdes seinen Ausdruck irren Entsetzens. Aber die Fliegen landeten nach wie vor auf den Rändern des halb geöffneten Mauls, aus dem die großen gelben Zähne hervorragten.
    »Sie sind schön«, sagte meine Cousine Emilia. »Schöne tote Pferde«, fügte sie hinzu.
    »Gehen wir zurück?«, fragte ich mit der Autorität des Älteren.
    Meine Cousine Emilia schürzte die Lippen und gab mir damit zu verstehen, dass sie nicht einverstanden war. Es war, als blitzte in ihren Augen etwas Listiges auf, das ganz und gar nicht altersgemäß war. Sie wandte sich mir zu und blickte mir, ohne zu blinzeln, direkt in die Augen, diesmal ohne rot zu werden, mit einer rückhaltlosen Entschlossenheit, selbstbewusst und beinahe unverschämt. Das kleine folgsame Mädchen, das eben noch schweigend, beinah zaghaft, einen halben Schritt hinter mir gegangen war, entpuppte sich auf einmal als ein Wesen, das sich einer ihm innewohnenden Macht bewusst war. Ich sah sie verwirrt an.
    »Und was soll ich dir jetzt zeigen?«, fragte sie.
    Ihr unerwarteter Vorschlag verblüffte mich, aber mehr noch die Selbstsicherheit, mit der sie ihn gemacht hatte, und ich antwortete nicht.
    »Du hast drei Wünsche frei«, sagte sie. »Beeil dich.«
    »Wo hast du das denn her?«, fragte ich. »Hast du dir das ausgedacht?«
    Ihre hochgezogene Oberlippe und die gerümpfte Nase zeigten mir, dass sie mit meiner mangelnden Bereitschaft, ihre Vorschläge anzunehmen, nicht zufrieden war.
    »Das ist ein Spiel«, erklärte sie.
    »Ich habe ein Märchen gelesen, in dem das vorkommt«, sagte ich. »Es heißt ›Drei Wünsche‹. Da gibt es eine Fee, die das macht, ich meine, die die Wünsche erfüllt. Oder einen Fisch. Ich weiß es nicht mehr.«
    »Gut«, sagte meine Cousine Emilia ein wenig ungeduldig. »Dann ist es eben ein Märchen. Aber du hast drei Wünsche frei. Sag, was du sehen willst.«
    Ich dachte nach, anscheinend zu lange.
    »Vielleicht irgendwelche Tiere«, sagte meine Cousine Emilia.
    »Ja«, sagte ich, »Tiere.«
    »Welche?«
    Wieder überlegte ich zu lange.
    »Elefanten?«
    Jetzt übertrieb sie es aber.
    »Ja«, sagte ich, »Elefanten. Zeig mir Elefanten.«
    Emilia leckte sich die Lippen. Ich nahm ein triumphierendes Zucken in ihrem Lächeln wahr.
    »Gut«, sagte sie. »Komm.«
    Jetzt übernahm sie die Führung, zielstrebig, mit einer Sicherheit, die meinen Widerstand brach und jeden Zweifel ausräumte. Worum ging es hier eigentlich? Um den verletzten Stolz eines kleinen Mädchens, das mir zeigen wollte, dass nicht nur ich etwas wusste? Um eine schon vorher ausgeheckte kleine Betrügerei? Um einen Trick, der letztlich darauf hinauslaufen würde, dass sie irgendein Bildchen oder kleines Spielzeug hervorziehen würde?
    Doch ich hatte keine Zeit, genauer darüber nachzudenken: Emilia ging ohne Zögern voran, selbstgewiss und mit einer beinahe schlafwandlerischen Sicherheit, wie jemand, der bereits unzählige Male denselben Weg mit demselben Ziel gegangen ist.
    »Wohin gehen wir?«, fragte ich.
    Emilia antwortete nicht.
    Wir gingen durch ein paar verlassene Straßen, in denen als einzige Spur der jüngsten Geschehnisse ein großer Damenstrohhut mit einem seitlich angebrachten kleinen Kunstblumenstrauß lag, über den das Rad eines Wagens hinweggerolltwar. Dann betrat meine Cousine

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