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Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Titel: Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vlada Urosevic
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    Sich in einem anderen Raum aufzuhalten, war unmöglich. Ganze Teile des Hauses blieben unerforscht, die Zimmer waren dunkle Höhlen, an deren Fenster der Frost eine seltsame polare Flora malte. Ins Badezimmer gelangte man nur mit Mühe: Dort hingen lange Eiszapfen von den Armaturen, die Wasserrohre waren geplatzt und man hatte vergeblich Bandagen aus Lumpen und Stroh um sie herumgewickelt. Die Tür des großen, jetzt völlig ausgekühlten Rundofens stand weit offen. Das Badezimmer war ein großes, verlassenesUnterseeboot aus den Romanen von Jules Verne, abgetaucht in die endlose Ödnis der Winternacht.
    In der Küche saßen wir Kinder in der Ecke beim Fenster. Dort litten wir alle zusammen an Keuchhusten und Windpocken, an Scharlach, Mumps und Langeweile. Es war uns verboten, uns den Erwachsenen anzuschließen und zuzuschauen, wie sie Domino spielten und die großen Landkarten in dem zerfledderten Weltatlas umblätterten, wobei sie irgendwelche Entfernungen in Spannen und Daumenlängen abmaßen.
    An einem dieser Abende hörten wir den pfeifenden Hund zum ersten Mal: Durchs Fenster erkannten wir ganz deutlich seine dunkelviolette Silhouette in der Polarnacht des Kriegswinters. Eigentlich war er uns nämlich schon von einem Bild vertraut. Mein Onkel Jakov war Kürschner, und während er in den Wirren des Krieges verschwand, blieb eine sonderbare Wandkarte zurück. Auf dieser die ganze Welt darstellenden Karte waren sämtliche Pelztiere abgebildet, deren Fell im Handwerk meines Onkels in irgendeiner Form genutzt wurde – vom fantastisch weißen Hermelin inmitten der Eisberge am Nordpol bis hin zum gewöhnlichen Feldhasen, der genau über unserem Wohnort platziert war. Wir entdeckten diese fabelhaften, wertvollen Tiere mit den prachtvollen Schwänzen und dem funkensprühenden Fell, jedes mit einer Nummer in einem kleinen Kreis gekennzeichnet, in den Tundren der Mongolei und den Wüsten Arabiens. Da waren der bunt gestreifte tasmanische Wolf, der strubbelige Marderhund vom Ussuri, die nur auf Madagaskar heimische Raubkatze Fossa, der langohrige Fuchs aus Südafrika und die Zibetkatze mit den kurzen Beinen, die bei den Ruinen derägyptischen Tempel anzutreffen ist. Hoch oben im Norden, in der Nähe des geheimnisvollen Archipels Spitzbergen, entdeckten wir schließlich verblüfft und aufgeregt den pfeifenden Hund. Im Unterschied zu den anderen Tieren, die auf festem Boden standen, schwebte er mit steifen Beinen und mit einem vergnügten, herausfordernden Grinsen über dem Nordmeer, über Eisbären und Robben und den im ewigen Eis eingeschlossenen Schiffen der ersten Erforscher der Polarregion. Er war ganz deutlich mit der Zahl Vierundvierzig gekennzeichnet. Aber ganz unten, in der Legende, wo alle Tiere auf der Karte aufgelistet waren, hatte man diese Zahl ausgelassen. Ob sich der Drucker einen Streich erlaubt hatte oder ob es sich um ein Berufsgeheimnis handelte, das uns der sachkundige Kürschner, der die Karte erstellt hatte, nicht verraten wollte – wir haben es nie herausgefunden. Wir fragten unsere junge Tante Milena danach, Onkel Jakovs Frau. Sie beugte sich zu uns herunter und vertraute uns wispernd an, als verrate sie uns ein unglaubliches Geheimnis, dass es sich dabei um den außerordentlich seltenen pfeifenden Hund handle, der sich kaum je zur Strecke bringen lasse, ein Wintertier, das durch die verschneiten Weiten ziehe, ein funkelndes Trugbild der nordischen Regionen.
    Es war meine Cousine Emilia, die ihn noch am selben Abend als Erste entdeckte. Die Erwachsenen waren in die Deutung der Vierzeiler des Nostradamus vertieft, seiner merkwürdigen und rätselhaften Prophezeiungen, und nahmen unseren überraschten und begeisterten Aufschrei nicht wahr: Über den schwarzen Dächern, auf denen sich träge die Wetterhähne aus Blech drehten, erspähten wir den pfeifenden Hund, dieses sagenumwobene Tier der Winternächte. Zuerstwirkte er wie eine Ansammlung violetten Rauchs, dann wie ein dunkler Ballon, der sich losgerissen hatte und nun über den Häusern schwebte, und schließlich leuchtete sein Fell in einem metallischen Blau wie bei einer elektrischen Entladung. Durch die frostklare Nacht hörten wir seinen Ruf – ein Pfiff, der irgendwo zwischen dem Signalton einer fernen Lokomotive und dem schrillen Flöten eines Wasserkessels lag.
    Die Tage vergingen schnell, verwandelten sich schon gleich nach

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