Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
Einverständnisses, und mir kam es so vor, als hätte ich das Losungswort genannt, das mich vertrauenswürdig machte und die Türen zum verborgenen Schatz öffnete.
»Sie interessieren sich für Motive aus Flora und Fauna«, sagte sie.
Ich begriff, dass sie sichergehen wollte, dass ich einer Prüfung unterzogen wurde.
»Mich interessiert Tuwa«, sagte ich. »Das Tuwa der Kindheit.«
»Jeder von uns hat sein eigenes Land der Kindheit«, sagte sie. »Ihres ist Tuwa? Meines ist Madagaskar.«
»Tananarive, Antalaha, Tamatave«, sagte ich leise. »Mahajanga. Farafangana. Ambatondrazaka.«
»Sind Sie dort gewesen?«, fragte sie.
»Über Briefmarken. Und Landkarten. Nur darüber«, antwortete ich.
»Der Herr wünscht?«, fragte eine männliche Stimme aus der Dunkelheit.
In dem kleinen Hinterzimmer saß sicherlich der Ladeninhaber.
»Der Herr kauft einen Satz Marken aus Tuwa«, sagte die junge Frau und sah mich verschwörerisch an, als teilte sie ein Geheimnis mit mir.
»Ich warte im Bistro gegenüber auf Sie«, murmelte ich, während ich die Marken entgegennahm. »Maevatanana. Marovoay.«
Wenig später saß ich in dem kleinen, mit afrikanischen Masken geschmückten Bistro, wo kleine Vietnamesinnen Säfte aus tropischen Früchten servierten.
»Ist es möglich, dass man sich an Namen erinnert, die man in der Kindheit gelernt hat?«, fragte sie, als sie sich neben mich setzte.
»Die Erinnerung bewahrt die Namen auf, die einmal eine schicksalhafte Bedeutung haben können«, sagte ich. »So wie bei unserer Begegnung.«
Als wir das Bistro verließen, bemerkte ich seinen in Goldbuchstaben geschriebenen Namen: »Melele-Mbembe«. Wo hatte ich diesen Namen nur schon einmal gehört?
Als wir die Holztreppe zu ihrer Wohnung in der Mansarde über den Dächern des Quartier Latin hochstiegen, legte sie den Finger auf die Lippen: »Die Nachbarn sind sehr neugierig, schweig still.«
Ohne ein Wort zu sagen, gingen wir auf Zehenspitzen und ahmten die langsamen, komischen Gesten ungeschickter Leute nach, die sich vergeblich bemühen, beim Gehen kein Geräusch zu machen. Sobald wir die Tür hinter uns geschlossen hatten, küssten wir uns. An den Wänden hingen alte Landkarten und eine Mondkarte mit erotisch schwellenden Höckern und den Kratern von Meteoriteneinschlägen.
Als wir später im Bett lagen und allmählich in den Schlaf sanken, sagte ich: »Du hast ganz vergessen, mir zu sagen, wie du heißt.«
Ihr Körper, dem die Liebe ihr Siegel hingebungsvollen Taumels aufgedrückt hatte, schlummerte gerade ein, war bereits unterwegs in andere Länder, andere Welten. Trotzdem murmelte sie mit ihr bereits nicht mehr gehorchenden Lippen eine Antwort.
»Isabella«, hörte ich sie flüstern, schon von fern, fortgetragen von den Strömungen der warmen Meere, jenerMeere von alten Landkarten, in zauberhaftem Gewiegtwerden über versunkenen Karavellen, über den verschiedenfarbigen Tiefen, über Korallenriffen und gewaltigen Wasserstrudeln, über den Meridianen und Windrosen. »Isabella«, flüsterte sie, »aber nenn mich Emilia.«
Informationen zum Buch
Als ihre Eltern Emilia nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu Verwandten nach Skopje bringen, wird sie rasch zum Mittelpunkt im Leben ihres nur wenig älteren Cousins, seine unverzichtbare Kameradin auf den gemeinsamen Streifzügen durch die Stadt und Objekt seiner erwachenden Begierde. Emilia verwickelt ihn in beunruhigende Abenteuer, die ihn immer wieder an seiner Wahrnehmung zweifeln lassen, in denen Zeit und Raum ins Wanken geraten und Traum und Realität sich mischen. Ob im Hinterhof, in einem aufgelassenen Hamam oder einem geheimnisvollen Hotel: Die beiden Heranwachsenden verstehen es, den verborgenen Zugang zum Reich der Phantasie zu finden, und machen verblüffende Entdeckungen.
In dichten atmosphärischen Bildern beschwört Vlada Urošević eine untergegangene Welt. Spielerisch öffnet er Türen zu unbekannten Räumen – ein Blick hinter den Spiegel lässt das Geheimnisvolle Teil des Alltags werden.
Informationen zum Autor
Vlada Urošević , geboren 1934 in Skopje, ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Mazedoniens. Er studierte Philologie in Skopje und wurde 1982 Professor am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Vlada Urošević ist Mitglied der Académie Mallarmé in Paris, der Europäischen Akademie der Poesie in Luxemburg und der Mazedonischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Er schreibt Romane, Gedichte, Essays
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