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Meine kaukasische Schwiegermutter

Meine kaukasische Schwiegermutter

Titel: Meine kaukasische Schwiegermutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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sei er seit vielen Jahren in diesem Forst im Einsatz und habe einiges vollbracht, gab der Förster stolz an. Auf einmal wurde Vitali schwach ums Herz. Er begriff, dass er wahrscheinlich niemals wieder die Sonne sehen werde und stattdessen Jahr um Jahr in diesem schweigenden Wald hin- und herjoggen, über Baumsperren klettern und sich mit schwachsinnigen Förstern unterhalten musste, bis er eines Tages selbst zu einem Förster mutiert war und Fallen für Jogger und andere Naturliebhaber baute.
    Er müsse noch einmal zu dem zweiten Schutzwall zurück und drüberklettern, forderte der Förster ihn auf.
    Während Vitali sich noch mit dem Mann unterhielt, lief Tamara sechs Mal um den schwarzen Vogel herum, und Luis hielt mit beiden Händen das Waschbecken fest. Er drückte es an seine Brust, als wäre dieses Waschbecken seine beste Freundin. Vor dem Hotel unterhielt sich die örtliche Jugend laut schimpfend und küsste sich innig an der Bushaltestelle. Hinter dem Hotel feierten die Straßenköter mit lautem Bellen eine Hundehochzeit. Dreharbeiten im Kaukasus sind eine echte Herausforderung.
     

 
23 -
Einige Besonderheiten des Leseverhaltens
im Nordkaukasus
     

     

Das Erbe des Sozialismus – kleine niedliche Zeitungskioske, die schon um sechs Uhr früh auf hatten, um die Bürger aufzuklären und sie mit den aktuellen Nachrichten zu versorgen – ist längst aus den Metropolen verschwunden. Manche verwandelten sich in Zigarettenkioske, Hotdogbuden oder kleine Video-Shops. Auf den Straßen der kaukasischen Städte kann man jedoch noch an jeder Ecke einen authentischen sowjetischen Zeitungskiosk besichtigen inklusive authentischer sowjetischer Verkäuferin. Das Warensortiment reicht von Spielzeug bis Kosmetik, es gibt dort Kugelschreiber, Lutscher und Luftballons, aber keine Zeitungen und Zeitschriften. Die Kaukasier wollen keine Zeitung lesen. Auch die seltenen Buchläden sind hier in erster Linie für die Belieferung der Schüler mit Lehrbüchern zuständig. Viele Zeitungen werden umsonst verteilt oder den Menschen vor die Haustür gelegt. Es sind von staatlichen Behörden verbreitete Blätter mit Berichten über das politische Leben in der Region, die gern mit nach Hause genommen und als Verpackungspapier benutzt werden.
    Von allen Druckerzeugnissen lieben die Kaukasier Kalender am meisten. Sie werden nicht nur an den Kiosken, sondern überall, sogar auf der Straße, von Einzelhändlern angeboten. So wie im Westen Pakistani mit Blumensträußen durch die Gegend laufen, so kleben sich die Kalenderträger in den Parkalleen an die Passanten oder laufen in den Regionalzügen durch die Waggons. Die Vorliebe für Kalender ist nur zu verständlich. Während Zeitschriften und Zeitungen fast ausschließlich den Klatsch und Tratsch der Großstädte weitertragen und von dem fremden, unwirklichen Spaßleben irgendwelcher Oligarchen berichten, die noch nie jemand gesehen hat, erzählt ein Kalender vom realen Leben.
    Eigentlich hatten die Russen schon immer eine Vorliebe für Kalender. Sie sind Kalendermenschen, und besonders stark war diese Vorliebe in den ländlichen Gegenden ausgeprägt. Die Gründe dafür müssen in der Geschichte des Landes, in der Mentalität der Bevölkerung liegen. Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wo du herkommst – so oder so ähnlich behauptete Euripides. Ich stimme ihm zu. Die Deutschen zum Beispiel mögen Zeitungen. Die Zeitung gehört zum Frühstück wie das Brötchen und der Kaffee. Ich habe nachgeschaut: In Deutschland werden seit dem 14. Jahrhundert Zeitungen gedruckt. Das Land war schon damals mehr oder weniger dicht besiedelt, und die Menschen machten ständig Verbesserungsvorschläge, wie man das Nebeneinander noch besser organisieren könnte. Manche waren dafür, andere dagegen, und dementsprechend gab es hier bereits seit dem 14. Jahrhundert täglich jede Menge Neuigkeiten, die an den Mann gebracht werden mussten.
    In der bäuerlichen, endlosen Steppe Russlands waren Kalender von Anfang an weiter verbreitet als alle Zeitungen. Diese Kalender waren keine Eintagsfliegen, sie mussten nicht jeden Tag gedruckt werden, sondern kamen in der Regel nur einmal im Jahr heraus und konzentrierten sich im Wesentlichen auf den Kreislauf der Natur. Mit ihren wichtigsten Nachrichten erfassten Kalender besser als jede Zeitung die Bewegungen des Lebens in ihrer Unendlichkeit, Unbeschränktheit, ihrer ständigen Wiederholung, letzten Endes ihrer Unfassbarkeit. Der Kalender diente als Zeitanzeiger und

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