Meine kaukasische Schwiegermutter
als Wecker, brachte Ewiges und Aktuelles zusammen auf ein Blatt: »Sieh an, der Winter ist da!«, zeigte der Kalender, »Pass auf, der Frühling kommt!«, »Freu dich, es ist endlich Sommer«, »Denk nach, es ist schon wieder Herbst«. Kalender erinnerten die Menschen daran, wann sie zu säen und wann sie zu ernten hatten, was wann gefeiert und wann getrauert werden musste. Zu jedem Tag gab es in einem solchen Bauernkalender die passende Weisheit, die dem Menschen helfen sollte. Alte Volksweisheiten, die aus einer tausendjährigen Lebenserfahrung entstanden waren und deren Sinn heute völlig verloren gegangen zu sein scheint: »Je frischer der Mist, desto kräftiger der Roggen«, »Je stärker die Sonne, desto länger der Schatten« und »Was ein Dummer zusammenknotet, kriegen hundert Weise nicht mehr auseinander«.
Lange Zeit spielten Kalender die Rolle der Unterhaltungsliteratur in Russland, sie waren Belletristik und Sachbuch in einem. Die leidenschaftlichen Liebes- und Ritterromane, nach denen im Westen so viele Leser fieberten, ließen die Russen kalt. Selbst auf dem Höhepunkt der Krimi-Mode, als die westliche Welt mit Spannung verfolgte, wie die berühmtesten Detektive ihre brisantesten Fälle lösten und noch die rätselhaftesten Morde aufklärten, wobei der oder die Verbrecher am Ende stets gefasst wurden und ihre gerechte Strafe bekamen, hielt sich die Begeisterung des russischen Lesepublikums für Krimis in Grenzen. Der klassische Detektiv setzt einiges voraus, was der russischen Gesellschaft schon immer gefehlt hat: ein ausgeprägtes Rechtsbewusstsein, ein stark entwickeltes Gefühl für die Unantastbarkeit fremden Eigentums, letzten Endes logisches Denken und die Lust, die Folgen einer Handlung bis ins kleinste Detail zu berechnen. Alles Eigenschaften, die die russische Gesellschaft nicht besaß, vielleicht weil sie zu wenig Zeitung und zu viel Kalender las. Die Russen handelten gerne unlogisch, lebten in großen Gemeinden und zogen nicht immer eine Grenze zwischen Dein und Mein. Sogar das Lesen fand meistens gemeinschaftlich statt, indem in einer Runde vorgelesen wurde.
Die Russen haben sich bis heute nicht geändert. Sie sind Fatalisten, die mehr an das Schicksal glauben als an das Gesetz, mehr an die Natur als an juristisch Kleingedrucktes. Und schon gar nicht interessiert sie, wer der Mörder ist. Dementsprechend haben sie auch keine Freude an seiner Verhaftung. Dafür haben die Russen über Jahrhunderte ihr eigenes Genre entwickelt, den sogenannten Überraschungsroman, in dem alles möglich ist und sogar Wunder geschehen. So kann zum Beispiel ein ganz armer Kerl plötzlich einen Sack voll Geld auf der Straße finden oder ein armer Junge eine Zarentochter heiraten. Das Glück lauert an jeder Ecke, es kann jeden treffen – oder vorbeirauschen, lautet die Botschaft dieser Romane.
So etwas liest man noch heute im Kaukasus gerne. Alle Überraschungen sind hier herzlich willkommen. Es ist uns nicht gegeben zu wissen, was kommen wird und wie sich unsere Taten auf die Umwelt auswirken. Deswegen machen sich die Menschen hier keine Sorgen wegen fehlender Versicherungspolicen. Sie trinken leichtsinnig aus nicht beschrifteten Flaschen, gehen nicht wählen, schnallen sich im Auto nicht an und fahren ständig auf der Gegenspur, um jemanden zu überholen, was selten gut endet. Und in jedem Haus hängt ein schöner Kalender an der Wand.
24 -
Geld verdienen
und ausgeben
im Nordkaukasus
Die traurigen Fernsehberichte über die Folgen der russischen Finanzkrise nahmen meine Kaukasier gelassen zur Kenntnis. In der Steppenstraße hat die Krise nicht zugeschlagen. Das bemitleidenswerte Schicksal der russischen Oligarchen, die tagein, tagaus Milliarden verloren, ebenso wie der Amok gelaufene Börsenmakler, der das letzte übrig gebliebene Lenindenkmal am Finnischen Bahnhof in die Luft sprengte, sowie die sinkenden Ölpreise und die eine oder andere verkaufte Luxusyacht, über die im Fernsehen mit kaum verhohlener Schadenfreude berichtet wurde – all das ließ die Steppenstraße kalt. Die einzige Meldung, die dort große Aufmerksamkeit erregte und an mehreren Abenden detailliert bei Wein und Cognac diskutiert wurde, war die tragische Abwicklung der Kleinstadt Pikalewo im Oblast Leningrad, die in den Medien ebenfalls auf große Resonanz gestoßen war. Sie fing als unspektakuläre Krisengeschichte an:
Wegen fehlender Aufträge wurde die einzige Zementfabrik in Pikalewo geschlossen und das Gehalt für
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