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Meine kaukasische Schwiegermutter

Meine kaukasische Schwiegermutter

Titel: Meine kaukasische Schwiegermutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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Entwicklung der zwischenmenschlichen Beziehungen im gesamten Nordkaukasus. Es fand eine regelrechte Tarzanisierung der Bevölkerung statt. Die Kavaliere waren dort schon vor der Ausstrahlung deutlich aufgedrehter und temperamentvoller als in den übrigen Teilen Russlands gewesen. Nach der Ausstrahlung des Films stieg das Selbstbewusstsein der kaukasischen Männer höher als der Elbrus. Überall wurden Tarzankas aufgebaut, selbst gemachte Lianen aus Seilen, an denen man sich durch die Luft über die Straßen schwingen und dabei im Flug vielleicht ein Mädchen von der Straße abgreifen konnte. Es war eine anstrengende Übung, die ohne spezielles körperliches Training nicht jedem gelang. Die meisten fielen runter.
    Später, in den Fünfzigerjahren, wurde ein neuer Filmklub genau gegenüber dem Haus meiner Schwiegermutter eröffnet. Eine Eintrittskarte für die erste Reihe kostete nur zehn Kopeken. Die Mädchen kauften sich beinahe jeden Tag eine Karte. Natürlich blieb niemand in der ersten Reihe sitzen. Kaum ging das Licht aus, kletterte die gesamte erste Reihe nach hinten auf die besseren Plätze. Am Montag jeder Woche lief ein neuer Film an, der sechs, manchmal auch sieben Mal gezeigt und ebenso viele Male angeschaut wurde. Die sowjetische Filmindustrie konnte den Filmhunger der Bevölkerung nicht aus eigener Kraft befriedigen. Neben den Kriegstrophäen kamen auch noch indische Filme nach Grosny sowie polnische, jugoslawische und sogar chinesische. Der Lieblingsfilm meiner Schwiegermutter war ein amerikanischer, »Der Reiter ohne Kopf«. Sie hat ihn elf Mal gesehen.
    Später, als Geologin auf der Insel Sachalin, ging sie zu jeder Filmpremiere ins dortige Kino »Der Ölarbeiter«. In diesem Kino wurde jedes Jahr eine Lotterie veranstaltet, bei der kurze Filmausschnitte gezeigt wurden, und der Zuschauer musste den Namen des Schauspielers, des Drehbuchautors oder das Produktionsjahr des Films erraten. Meine Schwiegermutter hat keine einzige dieser Lotterien verpasst und drei Jahre hintereinander den ersten Preis bekommen. Die feierliche Preisverleihung fand vor Beginn des Films auf der Bühne des Filmtheaters statt. Meine Schwiegermutter hat dabei einmal eine Enzyklopädie »Die berühmtesten Schauspieler der Sowjetunion« bekommen, ein anderes Mal den Roman eines lettischen Autors, »Der Sohn des Fischers«, sowie ein Jahresabonnement für die Zeitschrift »Die Sowjetunion auf dem Bildschirm«. Am besten gefiel ihr die Zeitschrift. Sie abonnierte dieses Filmmagazin später sogar jahrzehntelang freiwillig – bis der Sozialismus kippte und die Sowjetunion endgültig aus der Realität und von allen Bildschirmen des Landes verschwand. In der neuen kapitalistischen Zeit hat meine Schwiegermutter ihre Filmleidenschaft jedoch nicht vernachlässigt, im Gegenteil. Sie kaufte sich einen Videorecorder und fing an, ihre Lieblingsfilme zu sammeln.
    Auch heute findet ihr Leben und Tun zwischen Garten und Fernsehbildschirm statt. Vor allem mag sie ältere Filme. Niemanden hat sie so bewundert wie die alten sowjetischen Schauspieler, die Helden ihrer Jugend, denen es auf der Leinwand gegeben war, was vielen im wirklichen Leben misslang: ein leichtes, beinahe leichtsinniges Dasein in diesem schwierigen Land zu führen und aus jeder Situation einen Ausweg zu finden, in jeder Sackgasse eine Lösung. Meine Schwiegermutter liebte diese Schauspieler aufrichtig und schätzte sie auf fast irrationale Weise. Aber nicht einmal im Traum stellte sie sich vor, selbst einmal auf eine Leinwand zu geraten, in einem Film mitzuspielen. Als wir allerdings mit einem deutschen Fernsehteam in der nordkaukasischen Steppenstraße auftauchten, wurde sie zur Schauspielerin. Sie übernahm in einem Film über meine kaukasische Schwiegermutter die Hauptrolle, nämlich die ihrer eigenen Person. In einer großartigen Szene spaziert sie in ihrem Garten herum und betrachtet nachdenklich die Pflanzen. In einer anderen hat sie Erde um die Kürbisse aufgehäufelt und einen Eimer voller Tomaten gepflückt – mustertaugliche rote Tomaten, die von dem Aufnahmeleiter zuvor persönlich an besonders bildhafte Stellen platziert worden waren. Und das zehn Mal hintereinander, wie das Kino eben so funktioniert. Dabei wirkte die Schwiegermutter sehr selbstbewusst und professionell. Auf jeden Fall glaubwürdiger als Jane.
     

 
22 -
Aufnahmeleiter in
den Bergen
     

     

Unser Aufnahmeleiter Vitali, ein gebürtiger Weißrusse, der für Frieden und Völkerverständigung am Set

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