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Magazine of Fantasy and Science Fiction 10 - Wanderer durch Zeit und Raum

Magazine of Fantasy and Science Fiction 10 - Wanderer durch Zeit und Raum

Titel: Magazine of Fantasy and Science Fiction 10 - Wanderer durch Zeit und Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.A.
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Wanderer durch Zeit und Raum
     
J. G. Ballard
     
     
    Der Diebstahl von Leonardo da Vincis ›Kreuzigung‹ aus dem Louvre in Paris wurde am Vormittag des neunzehnten April 1965 entdeckt. Der Vorfall rief einen Skandal hervor, wie ihn die Welt bisher noch nicht erlebt hatte. Es hatte gerade in diesem Jahrzehnt genug Kunstraubfälle gegeben, aber keiner erregte die Massen so sehr wie dieser. Aus aller Welt trafen täglich Tausende von Telegrammen ein, die Mitgefühl oder Empörung ausdrückten. In Bogota und Guatemala wurden die französischen Botschaften zertrümmert. Diplomatische Verwicklungen bahnten sich an.
    Vierundzwanzig Stunden nach Beginn des sogenannten ›Leonardoskandals‹ traf ich, von London kommend, in Paris ein. Es herrschte eine hektische Atmosphäre, die sich bereits auf dem Flugplatz bemerkbar machte. Die Schlagzeilen der Zeitungen in den Kiosken trugen fast alle die gleichen Überschriften. Kurz und bündig schrieb die »Daily Mail«:
     
    Leonardos ›Kreuzigung‹ gestohlen!
     
    Meisterwerk im Wert von fünf Millionen verschwunden
     
    Das offizielle Paris war in Aufruhr. Der unglückliche Direktor des Louvre war aus einer Konferenz der UNESCO in Brasilia abberufen worden und berichtete im Elysée Palast. Das Deuxième Bureau hatte Alarmbereitschaft. Das Schicksal einiger Minister hing vom baldigen Wiederauftauchen des Gemäldes ab. Der Präsident der Republik selbst hatte in einer Pressekonferenz am frühen Morgen betont, der Diebstahl sei nicht allein eine Sache Frankreichs, sondern der ganzen Kulturwelt. Es müsse dafür gesorgt werden, daß alle Hinweise auf den Täter gesammelt und ausgewertet wurden. Jede Spur müsse man verfolgen. Einige Pressebeobachter verkündeten später zynisch, es sei die erste wirkliche Krise in der Laufbahn des Großen Mannes, und zum erstenmal habe er es auch unterlassen, seine Reden mit »Vive la France« zu beschließen.
    Meine eigenen Gefühle sind leicht verständlich, denn schließlich bin ich Direktor des Auktionshauses Northeby. Kunst ist mein Geschäft.
    Als mein Taxi an den Tuilerien vorbeifuhr, betrachtete ich die Fotoreproduktion des gestohlenen Meisterwerkes in der Zeitung. Ich kannte das Original, seine unvorstellbar schöne Farbkomposition, die einmalige Technik der Zusammenstellung, der Handlung und der Personen. Ich wußte, daß gerade dieses Gemälde allen Künstlern der Renaissance ein leuchtendes Vorbild gewesen war. Die Architekten und Maler des Barocks hatten ebenfalls davon profitiert.
    In jedem Jahr wurden etwa zwei Millionen Reproduktionen des Bildes verkauft, aber das hatte den Wert des Originals nicht verringern können. Es gehörte zu den wenigen Werken da Vincis, das außer den darauf abgebildeten Personen auch einen landschaftlichen Hintergrund zeigte. Vergleichen ließ es sich nur mit dem »Abendmahl«. Auf beiden Gemälden hatte Leonardo da Vinci die Menschen um Christus verewigt.
    Es war wohl gerade dieser Umstand, der dazu beigetragen hatte, daß die »Kreuzigung« in seiner klaren Linienführung stets einen magischen Eindruck auf den Beschauer ausgeübt hatte. Der Ausdruck im Gesicht des sterbenden Herrn, die Augen Marias und Magdalenas, die gewaltige Menge der Zuschauer auf Golgatha – das alles erweckte den Eindruck einer schauerlichen Vision vom Jüngsten Gericht. Dieses Stück Leinwand, von da Vinci unsterblich gemacht, hatte die Fresken von Michelangelo und Raphael genauso beeinflußt wie die Schulen von Tintoretto und Veronese. Daß jemand den traurigen Mut aufbrachte, dieses Gemälde zu stehlen, war bezeichnend für den Respekt der Menschheit gegenüber ihren größten Zeugen.
    Auf dem Weg zu den Galerien begann ich mich zu fragen, ob es wirklich ein Diebstahl war. Das Gemälde maß fünfzehn mal achtzehn Fuß und war sehr schwer, da die Leinwand auf einer Eichenholzgrundlage befestigt worden war. Außerdem war der Diebstahl sinnlos, weil es keinen Markt dafür geben konnte. Das Bild war unverkäuflich. Ich dachte zuerst an politische Hintergründe; war es möglich, daß die französische Regierung dahintersteckte und ein Ablenkungsmanöver verfolgte?
    Ich erzählte meinem Freund George de Staël von meinem Verdacht. Er ist Direktor der Galerie Normandie, und ich wohnte bei ihm. Angeblich war ich nach Paris gekommen, um einer Konferenz internationaler Kunstexperten beizuwohnen. Das stimmte nur in gewisser Beziehung. Es ist klar, daß ein so sensationeller Bilderraub die Kunstbörse beeinflußt. In solchen Fällen

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