Meine letzte Stunde
Geri war begeistert von dem Thema und empfahl mir zwei Freunde von ihm, einen prominenten Sportler und den bedeutenden Krebsspezialisten Christoph Zielinski als Interviewpartner zu dem Thema. Nach einem tief gehenden Gespräch über uns, Gott und die Welt trennten wir uns.
Sechs Wochen später, am 25. Dezember hörte ich die sehr aufgekratzt klingende Stimme von Geri auf meiner Mailbox: „Hallo, Andreas, ich habe gehört, Dein Gespräch mit meinem Freund, dem Dr. Zielinski, war sehr ergiebig für Euch beide. Ich habe übrigens noch einen Interviewpartner für Dich. Mich selbst. Ich liege seit einer Woche hier beim Zielinski und habe einen riesigen Tumor im Bauch. Aber mir geht’s großartig. Wir lachen viel gemeinsam, der Christoph und ich. Rufe mich an oder besuche mich. Ich habe Dir jetzt noch mehr zu erzählen.“
„Alles hat mit einem leisen Ziehen in meinen Leisten begonnen.“ So eröffnete Geri das Gespräch mit mir, das acht Wochen nach seiner Nachricht auf meiner Mailbox, am ersten strahlenden Sonntag des Jahres, mitten in seiner Chemotherapie, im schönsten Penthouse der Stadt stattfand. „Mein erster Gedanke, als ich die Diagnose hörte, war nicht: ‚Warum ich?‘, sondern: ‚Aha, ich auch.‘ Das Adrenalin schoss hinein in mich und ich verspürte die dreifache Kraft. Bei mir war alles wie auf Schienen, keine Panik, kein Selbstmitleid. Offensichtlich wendet man das trainierte Verhalten auch in so einer Situation an, ich entwarf präzise Ablaufpläne und ‚To do‘-Listen für den Fall der Fälle.
In all meiner Geschäftigkeit hatte ich plötzlich einen Flashback, etwas, das ich bis dahin nur aus Erzählungen kannte. Mein gesamtes Leben lief innerhalb von Sekunden vor mir ab, es war, wie wenn die Zeit stehen geblieben wäre, und ich wurde mit den wesentlichen Fakten meines Lebens in einer ganz verdichteten Form konfrontiert. Wenn man das Leben als Geschenk betrachtet, dann hatte ich meines nicht so behandelt, wie man mit einem wertvollen Geschenk umgehen sollte. Ich habe fast nichts ausgelassen. Aber wenn es das schon gewesen sein sollte, dann hatte ich mein Leben eigentlich weggeschmissen. Mein Lebenskonzept war, ein Drittel Vollgas zu geben, beruflich sehr erfolgreich zu sein, da habe ich viel erreicht. Ein Drittel etwas für andere zu tun, also das ehrliche soziale Engagement, nicht der Klingelbeutel oder die Teilnahme an der Charity-Veranstaltung, um sein Gewissen zu beruhigen – da hätte ich viel mehr tun können. Und das dritte Drittel sollte die Lebensfreude sein, sich selbst etwas Gutes zu tun, das habe ich völlig verabsäumt. Ich habe immer für das Morgen gelebt, ich habe alles für die Zukunft gespart. Das Sparbuch muss dick sein, und die Aktienpakete hoch. Die meisten Abenteuer habe ich für den Kick gemacht. Nur wenn ich in die Berge gestiegen bin oder Skitouren gemacht habe, dann konnte ich wirklich genießen.
Schuldgefühle hatte ich, als ich bei dem Flashback meine Kinder gesehen habe, weil ich nicht nur zu wenig, sondern in Wirklichkeit überhaupt keine Zeit für sie gehabt habe. Statt dass ich das getan hätte, was mir selbst Spaß gemacht hätte, wie mit meinem Jungen auf den Fußballplatz zu gehen, habe ich einen Kundentermin gemacht, der ohnehin nicht so dringend war, wie ich mir einredete. Oder mit der Tochter Eislaufen gehen, ich gehe selbst gerne Eislaufen, warum habe ich das nicht gemacht? Es war mir immer etwas anderes wichtig. Noch schlimmer als die Schuldgefühle war die Erkenntnis, dass ich etwas nicht gemacht habe, was ich selber gerne getan hätte. Das hat mich am meisten traurig gestimmt.
Und dann bin ich draufgekommen, dass ich immer Ja gesagt habe, zu allen und zu allem. Ich kannte das Wort Nein nur mir selbst gegenüber, da war ich fast ein Asket. Wann immer jemand etwas von mir wollte, habe ich sofort Ja gesagt, auch wenn ich gar nicht helfen konnte, sondern dann erst mühsam versuchen musste, doch etwas für ihn zu tun. Auf die Frage ‚Kennst Du da jemanden?‘ gab es bei mir nur die reflexartige Antwort ,Ja‘. Selbst wenn zwei neben mir über ein Problem diskutiert haben, das mich überhaupt nichts angegangen ist, habe ich mich sofort eingemischt und meine Hilfe angeboten. All das tue ich in Wirklichkeit nur, um mich selber wichtig zu machen. Das Problem liegt aber gar nicht so sehr in dieser Eitelkeit, sondern dass ich so oft Ja gesagt habe, dass ich es dann oft einfach nicht mehr zusammenbringen konnte. Dann hatte ich zusätzlich noch das Gefühl,
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