Meine Mutter, die Gräfin
Prolog
Hier stehe ich, wie ein kleines, erschrockenes Kind, und halte fassungslos ihre riesigen, hässlichen rosa Schlüpfer in meinen Händen. Hat sie wirklich solche Schlüpfer getragen?! Meine attraktive, schlanke, geschmackvoll gekleidete Mutter mit dem Hauch von Chanel No. 5, den perfekt manikürten Händen und den zauberhaftesten Knien, die ich je bei einer Frau gesehen habe – und dann diese entsetzlichen Schlüpfer? Na gut, immerhin ohne Beingummibund, aber stattliche Dinger allemal. Vielleicht litt sie ja unter Blasenentzündung, die bekommen Frauen schließlich leicht in den Wechseljahren – aber, was weiß ich?
Nichts.
Ich stehe mit ihrer Unterhose da und ein Gedanke lässt mich nicht los: Mama ist tot, unwiederbringlich für mich verloren – und sie, sie sind noch da.
Und längst nicht nur ihre Schlüpfer. Ihr Sekretär aus Walnussholz enthält alles Mögliche: Häkelnadeln und Nagelfeilen, Sicherheitsnadeln und Büroklammern, Stifte und Abzeichen von diversen Gewerkschaftsverbänden, die ans Kostümrevers geheftet wurden – unzählige, nach all den Konferenzen und Reisen, auf denen sie gedolmetscht hat. Und dann sind da noch ihre Taschenkalender mit kurzen, fast stenografischen Einträgen. Für was bloß? »Einar«?
Ich packe alles in eine Tüte – was soll ich auch sonst damit machen? Und die Unterhosen, habe ich sie eigentlich weggeschmissen? Diese Unterhosen muss ich doch weggeschmissen haben?! Habe ich so vielleicht ihr Tagebuch gefunden? Im Papierkorb?
Konnte Papa es einfach weggeworfen haben? Mamas Tagebuch? Ich stopfe es in die Tüte. Hatte er es tatsächlich weg
geworfen? Es handelte sich hier schließlich nicht nur um einen kleinen Taschenkalender, sondern um ein richtiges Tagebuch. Aber das geht doch nicht! Man kann doch nicht einfach Mamas Tagebuch in den Papierkorb schmeißen!
Ich weiß nicht mehr, wo mein Vater war, als ich – war ich wirklich ganz allein da? – das Zimmer meiner Mutter in der Stocksunder Wohnung ausmistete. Er hatte bestimmt gesagt, dass ich ja nachsehen könne, ob ich etwas davon haben wolle, bevor er es wegtut. Und trotzdem schmeißt er einfach ihr Tagebuch in den Müll! Er hätte sich doch denken können, dass ich es da finden würde.
Es muss an einem kalten Wintertag gewesen sein. Sie starb im Februar 1966; ich habe immer Schwierigkeiten, mich an das genaue Datum zu erinnern. Die Kinder muss ich bei A. gelassen haben. Meine Tochter Anja, die in Kürze zwei werden sollte – oder war sie da schon zwei? – und keine Oma mehr haben würde. So wie Tomas mit seinen vier Monaten. Ich muss die Kleinbahn genommen haben und dann die steile Anhöhe zu dem zweistöckigen Haus hinaufgegangen sein, in dem sie ihre letzte Wohnung hatten: Eine hübsche Dreizimmerwohnung – mit Balkon und sogar mit Kamin –, auch wenn sie für die feine Stocksunder Villengegend schon einen fast proletarischen Anstrich besaß.
Ich kann mich allerdings noch daran erinnern, dass ich, schon halb im Aufbruch, im Flur noch das Tagebuch aufschlug. Ich gehöre zu denen, die sich erst in letzter Sekunde entscheiden – auf der Türschwelle, auf dem Weg aus dem Haus. Als müsste ich mich dann nicht mit den Dingen auseinandersetzen. Dort neben dem großen Büfettschrank also, links von der Küche, muss ich es aufgeschlagen haben und bin beim Überfliegen vermutlich auf diese Zeilen gestoßen: » Heute Nacht hab' ich ein hässliches kleines Mädchen geboren «.
Mich.
Da schlug ich das Tagebuch wieder zu. Verstaute es mitsamt den Fotos, Briefen und dem Wenigen, das es sonst noch gab, in ein paar grünen Kisten tief im Kleiderschrank, oder vielleicht auch im Keller, sodass sie fast in Vergessenheit gerieten, wenngleich ich sie in den nächsten vierzig Jahren bei jedem Umzug wieder mitschleppte.
Aber meine Mutter habe ich nicht vergessen. Eine Mutter kann man nicht vergessen. Sie hat mich nicht losgelassen, ist mir im Traum erschienen und hat zum Teil groteske Formen angenommen – wurde zu einem Brotlaib, einem Duft. Spendete Trost. Eine vage Erinnerung.
Und eines Tages fasse ich einen Entschluss: Jetzt ist es an der Zeit, jetzt schreibe ich etwas über meine Mutter. Mein Vater ist tot und kann dadurch nicht mehr verletzt werden. Nun haben wir alle, meine Geschwister Eili, Sven und ich, ein gewisses Alter erreicht, denke ich – sind alt, weißhaarig, mit dem Leben im Reinen und mit der Kindheit versöhnt – denn so ist es doch? Jetzt mach ich es einfach.
Aber ich weiß doch gar nichts?
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