Meine Mutter, die Gräfin
wandelnde Gedächtnis unserer Familie, die Letzte aus Radautz und Leipzig, und als ich damit begann, sie Anfang der Neunzigerjahre im Altersheim zu besuchen, war sie bereits so gealtert, dass schon nichts anderes als diese Orte mehr für sie gegenwärtig waren.
Warum nur habe ich sie nie nach Emilie gefragt, ihrer heiß und innig geliebten kleinen maman , ihrer kleinen Mutsch , deren dunkles Haar schon so früh seine Farbe verlor und der ich – wie Mama mir erzählte – so ähnelte?
»Du bist genauso flink wie deine Oma Emilie«, hat sie gesagt.
Stattdessen sind heute, zwanzig Jahre später, meine weißen Haaren das einzige – völlig stumme – Bindeglied zwischen mir und meiner mir gänzlich unbekannten Großmutter, deren Stimme und Erzählungen ich jedoch anhand des
noch vorhandenen brüchigen Quellenmaterials nachzuspüren versuche: Vergilbte Briefe, ein halb zerfallenes, fragmentarisches Tagebuch auf Französisch, ein Stoß Briefe und dann diese alten Fotos. Immerhin. Nachdem ich das halb aufgelöste, über hundert Jahre alte kleine Tagebuch mühsam entziffert habe, kann ich sie endlich hören, sehe ich sie lebendig vor mir: Emilie Redard, meine Großmutter. Mamas heiß geliebte Mutter.
Emilie
Ich sehe sie vor mir mit ihren achtzehn Jahren, in einen schmal geschnittenen Rock und eine Bluse gekleidet, die den hübschen, schlanken Mädchenkörper nachzeichnen. Ihre Haare hat sie auf dem Oberkopf zu einem dicken, dunkelbraunen Knoten hochgesteckt – die Frisur einer erwachsenen Frau. Das neue Jahrhundert, das zwanzigste, hat gerade erst angefangen und sie macht sich auf, ihren Geburtsort, das Dorf Auvergnier bei Neuchâtel in der Schweiz, zu verlassen. Ein entzückendes kleines Dorf übrigens – ich habe es im Internet gefunden, an Sommerabenden spielen sie dort Jazzmusik auf dem Marktplatz. Hier sehe ich es in Emilies Fotoalbum mit hellbraunem Ledereinband, in dem man von zwei Seiten blättern kann – auf ein paar Schwarz-Weiß-Fotografien von 1902: Die eine Aufnahme zeigt einen Wagen, der von vier Pferden gezogen wird; in der weich geschwungenen hügeligen Landschaft im Hintergrund sind das Dorf mit der Kirche und ein paar niedrige Häuser zu erkennen. Hier ein Fluss, da die Brücke, auf der anderen Seite Häuser und ein winzig kleiner Zug, der am gegenüberliegenden Flussufer entlangfährt und weiße Dampfwolken ausstößt.
Ein Zug, der sie in die weite Welt hinausbringen wird; womöglich mit ihrem Fotoalbum, ihrem Tagebuch, ihrem mit Kleidern und Büchern gefüllten Gepäck. Denn Emilie stammt aus dem französischsprachigen Teil der Schweiz, in
dem ein so geschliffenes Französisch gesprochen wurde, dass selbst Mädchen aus den unteren Schichten als Gouvernanten für europäische Adelsfamilien in Betracht kamen. Und Emilie wird jetzt bis nach Rumänien, nach Bukarest reisen, wo sie offenbar in einem Pensionat unterrichten soll; ganz sicher bin ich mir da aber nicht, denn ihr Tagebuch gibt keinen Aufschluss darüber. Und Leni und Mama sind tot, und es gibt auch sonst keinen mehr, den ich danach fragen könnte.
Da sitzt sie jetzt also in dem kleinen Zug. Ängstlich? Garantiert. Aufgeregt? Keine Frage. Aber sicher auch glücklich, als sie das Dorf hinter sich im Zugqualm immer kleiner werden sieht. Denn war das nicht der Traum aller Mädchen zu jener Zeit, zu Beginn des neuen Jahrhunderts – aus dem Dorf herauszukommen?
Wenngleich es da natürlich noch ihre Mutter Cécilie gab (ja, ja, wir alle mit unseren Müttern …). Das Heimweh nach ihr muss wohl doch schon nach wenigen Kilometern eingesetzt haben.
»Meine Mutter …«, schreibt Emilie in einem ihrer letzten Briefe an ihre älteste Tochter Charlotte, der aus einer ganzen Serie von eng beschriebenen Briefen, die ihre Lebensschilderung enthalten, stammt. Sie schrieb diese Briefe nicht, weil sie sie nicht dem Vergessen preisgeben wollte, sondern weil ihre heimatlose, entwurzelte älteste Tochter Charlotte – Lolotte, Lottie – sie danach gefragt hat.
»Wie war das damals, maman , kannst Du mir nicht davon erzählen?«, muss Charlotte ihrer Mutter Emilie geschrieben haben. Erzähl's mir! Und Emilie, wie sie da so im Sterben in ihrem Krankenbett lag, muss um ein paar zusätzliche Kissen als Rückenstütze gebeten, sich halb aufgesetzt und zur Feder gegriffen haben, und schreibt also, dass ihre Mutter, Charlottes Großmutter, eine fantastische Frau gewesen sei: »Cécilie Emma Redard, geborene Pfeiffer, war allerliebst, gütig und bescheiden,
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