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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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Iulia in Rumänien) und über den Gebirgspass Siebenbürgen (Transsilvanien) nach Bukarest in Rumänien bringt. Das »Paris des Ostens«, wie Bukarest in zeitgenössischen Nachschlagewerken auch genannt wurde, war eine bezaubernde kleine Hauptstadt, die laut Volkszählung von 1912 341 321 Einwohner hatte und von breiten Boulevards gesäumt wurde: Dem Regina-Elisabeta-Boulevard, der Siegerstraße, wo sie sonntags in den Menschenströmen dahinflanieren wird, über die Brücken des Flusses Dâmboviţa, über die schönen Plätze, vorbei an den Häusern und Parks und bis hin zum Schloss, auf dem Carol I . residierte, denn Rumänien war zu der Zeit ein kleines »Operettenland«, eine heile
Welt, die von einem König, einer gesetzgebenden Versammlung und neun Ministern regiert wurde.
    Das schwedische Konversationslexikon, das mir über all dies Auskunft gegeben hat, erwähnt allerdings nicht den Bauernaufstand von 1907, bei dem sich eine landlose Bauernbevölkerung, die kurz vorm Verhungern stand, gegen den Weizen und Mais exportierenden Adel erhob – ein Aufstand, bei dem 10 000 bis 12 000 Menschen getötet wurden und besorgniserregende Judenpogrome stattfanden. Vielleicht sieht Emilie ja, wie Horden von besitzlosen Landarbeitern und heimatlose Juden – 4 bis 5 Prozent der Bevölkerung dort waren Juden – durch die bergige, bewaldete Landschaft ziehen? Gespannt lehnt sie sich vor, als der Zug in die schöne Stadt einfährt. Denn sie ist trotz allem eine Stadt. Eine große Stadt aus Stein. Einen Pass besitzt sie nicht – die Grenzen stehen offen, Europa ist offen. Wir schreiben das Jahr 1901, das Mädchen ist achtzehn Jahre alt und das Leben wundervoll. So ist es doch?
    Bukarest

    »Welch' merkwürdige Gesinnung mir doch zu eigen ist! Wie unbegreiflich das Leben doch ist! Bisweilen durchzieht ein Hoffnungsstrahl unsere beklagenswerte Menschheit! Doch vergebens …! Aber was kann eine armselige Hökerin auch vom Leben erwarten?«

    Das notiert sie, Eva Emilie Redard, zwei Jahre später am 10. Oktober in ihr mit vergoldeten Eckbeschlägen eingefasstes Tagebuch.
    Ja, dieses Tagebuch: Diese eng beschriebenen kleinen Seiten entschlüsseln zu wollen – diesen hundert Jahre alten Nachlass aus den Händen einer jungen Frau – ist so, als würde man Gold schürfen. Wie gelang es ihr bloß, so klein und da
bei so deutlich zu schreiben? Meisterlich beherrscht sie den Umgang mit diesen Federn und den abnehmbaren Stahlspitzen, die es Könnern ermöglicht, winzig klein und zugleich noch gestochen scharf zu schreiben – nicht ein Tintenklecks auf diesen vielen Seiten! Hinter all dieser feinen Schreibkunst mitsamt ihren Ausrufezeichen, ihren Voilà's!!!! und ihren Ah's!! , tritt allmählich eine verschwommene Geschichte zutage, die ich – so gut wie ich es vermag – herauszufiltern versuche, schreibt dieses junge Mädchen doch nie klipp und klar, was in Bukarest tatsächlich geschehen ist, schreibt nichts über ihren ersten Verlobten. Eine Geschichte, auf die sie jedoch ihr Leben lang immer wieder – andeutungsweise – zurückkommt. So ist auch der zutage tretende »Schatz« nicht die Geschichte an sich; der Schatz ist sie selbst – dass sie, meine unbekannte Großmutter, zum Leben erweckt wird. Du suchtest eine Mutter und fandst eine Großmutter – du bist entzückt, murmele ich vor mich hin.
    Obwohl – es gibt natürlich eine Story: Da ist diese Mädchenschule, eine Art Pensionat, an dem sie – vermutlich – unterrichtet hat. Ein Ort voller Intrigen und Klüngeleien zwischen dem Lehrerkollegium und dem Rektor. Jemand soll offenbar entlassen werden. Wer wird das Opfer bringen? Ach, Niva, liebste Kollegin, halt dich tapfer!
    Doppelmoral und auferlegte Zwänge waren an der Tagesordnung – hier war es einem fürwahr nicht erlaubt, ohne Schürze auszugehen, ja, und was sollten die jungen Damen machen, die keine eigene Familie hatten? Der Klatsch blüht, es gibt niemanden, dem man sich anvertrauen kann, Köpfe werden in den Nacken zurückgeworfen – ach, wie konnte ich das nur vergessen? So pflegten das schließlich alle Frauen in den Mädchenbüchern meiner Kindheit zu tun. So sah die Waffe der jungen Damen gegen Unterordnung aus: den Kopf zurückzuwerfen.
    Auf Emilie lastet jedoch ein heimlicher Kummer, den sie
vor den Blicken der anderen verbergen muss – besaß sie wirklich keine Vertraute? Keine, mit der sie Sonntagsspaziergänge auf der Siegerstraße unternahm – hin und her, in langen, schwingenden Röcken und

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