Meine Mutter, die Gräfin
Geschichte dabei herausgekommen – Geschichte, in der meine Mutter vorkommt. Aber zugleich
hat meine Mutter auch zunehmend an Konturen gewonnen und ist mehr geworden als eine bloße Gestalt, die man im Hintergrund ahnen kann. Mich überläuft ein Schauer, als mir klar wird, dass ich mir meine Mutter nicht erdichtet habe, sondern ihr Leben nachgezeichnet habe und sie so habe lebendig werden lassen. Was sie wohl davon gehalten hätte?
Ein jäher Zorn flackert in mir auf; ein diffuser Zorn, von dem ich nicht weiß, wogegen er sich richtet. Gegen sie? Die einfach gestorben ist, bevor sie mir alles selbst erzählen konnte?! Sie sollte mir dankbar sein, fährt es mir trotzig durch den Kopf, habe ich doch mit unendlich viel Liebe und Mühe so viel wie nur irgend möglich herauszufinden versucht und anderen Menschen respektvoll und zartfühlend ihr Schicksal (und das von Leni, Emilie, Fritz, Otto, Alexander und Heinrich) geschildert. Das ist mehr, als den meisten in diesem kurzen Menschenleben zuteil wird, wenn ich an die Fülle anonymer Schicksale denke, von denen noch nicht einmal mehr ein Staubkorn existiert – die einfach vom grauenvollen schwarzen Loch der Ewigkeit verschluckt worden sind.
In ihrem Pariser Tagebuch findet sich eine Notiz – es ist Herbst, als sie sie aufschreibt, Herbst 1938, als ihr Leben sich gerade gefährlich nahe am Rande des Abgrunds bewegte. Sie erwähnt darin eine Freundin, die offenbar von ihrer, Charlottes, Lebensgeschichte fasziniert ist. Ich stell' mir vor, wie sie da so nebeneinander in einem kleinen Bistro sitzen, Wein schlürfend und – zweifelsohne – eine Zigarette nach der anderen rauchend, als ihre Freundin verkündet, dass sie ein Buch über sie schreiben will. Der einzige knappe Kommentar meiner Mutter: Glaube kaum, dass sie es fertig bringt .
Aber ich – ich habe es gemacht.
Mama!
Und zum Schluss noch ein paar Worte an meine Geschwister Sven und Eili. Dies ist für Euch. Nehmt es an.
Stockholm, im Oktober 2009
Yvonne Hirdman
Emilie und Charlotte 1907.
Kapitel 1
Die Gouvernante und der Buchhandelsgeselle
Bukarest – Dorpat – Oxford 1900-1911
Sie hat sie alle überlebt. Sie hätte etwas erzählen können – von meiner Mutter, meiner Großmutter, der Bukowina, von … Meine Tante Leni, meine kleine deutsche Tante Leni.
So leise atmet sie, dass ich im ersten Augenblick fast denke, dass sie gestorben ist, bis ich eine ganz leichte Bewegung unter der Decke wahrnehme. Leni liegt in ihrem kleinen, abgedunkelten Zimmer im Seniorenwohnheim in der Hamburger Blumenstraße; ich sitze still daneben. Ich sehne mich danach, endlich gehen zu können, an die frische Luft zu gelangen und diesem Wartezimmer des Todes den Rücken zu kehren – diesen wächsernen, entstellten Gesichtern, die geräuschvoll den wässrigen, weißen Spargel in sich hineinschlürfen. Die Haut über Lenis Gesicht ist gespannt und ihr Lächeln scheint völlig erloschen, jetzt bringt sie noch nicht einmal mehr die Kraft auf, ansatzweise zu lächeln. Diese Leni möchte nur eines – sterben. Und mich dabei an ihrer Seite wissen – zumindest glaube ich das. Sie hätte es sicher am liebsten, wenn ich mich neben ihr im Bett zusammenrollen und sie festhalten würde. Meine kleine Tante Leni, mit ihrem gebrechlichen Körper, den es bald nicht mehr geben wird, und ihrer dünnen, ergrauten Kleinmädchenfrisur.
Leni (links im Bild) in der Blumenstraße.
Warum, ja, warum nur, habe ich ihr nie richtig zugehört?! Warum war ich nie richtig neugierig? Warum habe ich nie
das Gespräch auf ihre Kindheit gebracht? Auf die schwarz gerahmten Bilder, diese Aquarelle in gedeckten blau-braunen Tönen, die neben der spärlichen Ausbeute an Dingen in ihrem kleinen Zimmer hingen und Motive eines längst entschwundenen Osteuropas zeigten, zum Beispiel? Dinge, die sie nach dem Mauerfall, als sie aus der Reginenstraße 14 in Leipzig hierher nach Hamburg kam, mitgebracht hatte.
Hat sie häufig gemalt, deine Mutter Emilie? Hat sie gesungen? Von ihrer Kindheit erzählt? Habt ihr, du und Mama, jemals eure Großmutter Cécilie kennengelernt? Hat Emilie Fritz aufrichtig geliebt, was meinst du? Wie groß war sie? Hatte sie blaue Augen? Euer Haus in Radautz, wie sah es aus? Wie habt ihr Weihnachten gefeiert? War eure Mutter gläubig? Seid ihr in die Kirche gegangen?
Mama war da ja schon nicht mehr am Leben, so unwiederbringlich für mich verloren, aber Leni, ihre kleine Schwester, lebte damals noch. Sie war sozusagen das
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