0227 - Gefangen in der Totenstadt
»Laßt mich los, ihr Schweine!« keuchte das Mädchen. »Sofort loslassen, sage ich!« Keine Reaktion. Genausogut hätte sie einen Felsen um Gnade anflehen können.
Nur noch wenige Herzschläge, dann würde man Sandra Jamis auf den Altar legen, um sie irgendwelchen düsteren Gottheiten zu opfern.
Dabei hatte alles so harmlos angefangen…
***
Die Straße führte in die Dunkelheit. Hinter ihr pulsierte das Leben der Großstadt. Aber vor ihr lag der Weg zu den Totenstädten, wo seit Jahrtausenden die Asche und die Gebeine der Bewohner der Ewigen Stadt ruhten.
Sandra Jamis war erst vor einem Tag in Rom angekommen. Väterchen zu Hause hatte tief in die Tasche gegriffen, um seiner Tochter die Reise in die Stadt der Cäsaren zu ermöglichen. Denn Geschichte war in der Schule ihr Lieblingsfach gewesen, und für die alten Römer hatte sich Sandra immer ganz besonders begeistern können.
Ganz klar, daß sie so lange zu Hause einen Schmollmund gezogen hatte, bis ihr der alte Herr in all seiner Großmut eine Busreise in die Sieben-Hügel-Stadt spendierte.
Nun war sie schon den ganzen Tag unterwegs. Von der Reisegesellschaft, einem Bus voller langweiliger Rentner, hatte sie sich schnell abgesetzt. Nur mit einem Reiseführer und einem Sprachführer für Italienisch hatte sie Rom auf eigene Faust aufs Korn genommen. Das Forum Romanum, das Kapitol, den Circus Maximus und das Colosseum - das alles hatte sie gesehen. Und dann war Sandra Jamis die Straße, die links an den Thermen des Caracalla vorbeiführt, weitergegangen.
Sie entnahm ihrem Reiseführer, daß sie sich auf dieser Straße der Porta San Sebastiano näherte. Und hinter diesem alten Wehrtor lag die Via Appia.
Diese uralte, antike Straße wollte sie noch sehen, bevor sie zurück ins Hotel ging. Und in ihrem historisch orientierten Bewußtsein machte sie sich klar, daß sie nun auf demselben Weg ging, wo schon die ersten Christen heimlich zu den Versammlungsstätten in den Katakomben gewandelt waren.
Die Straße wurde bald sehr einsam.
Übergangslos fiel die Dunkelheit über das Land. Die weit auseinanderliegenden Straßenlaternen gaben nur ein schwaches Licht. In dieser Mischung aus Pseudo-Helligkeit und den der Nacht vorauseilenden grauen Schatten verzerrten sich Gestalten und Konturen.
In den Pinien am Rand der Straße schien es zu leben. Der Triumphbogen des Drusus wurde zum gefräßigen Rachen eines Urweltungeheuers. Aber Sandra Jamis ging tapfer weiter.
Wie auch ihre Freundin Tina Berner war sie nicht nur ein großer Fan der »Star-Wars«-Filme, sondern sie lebte auch nach dem Kodex der Jedi-Ritter. Und ein Jedi hat nun mal keine Furcht. Hat er sie aber doch, dann muß er sie bekämpfen. Und das tat er, indem er sich der Gefahr stellte.
Ihrer Freundin Tina wäre das aber bei einem Aufenthalt in Ägypten beinahe zum Verhängnis geworden. Hätte nicht ein gewisser Professor Zamorra eingegriffen, dann wäre Tina heute nicht mehr am Leben gewesen. [1] Sandra Jamis war ganz versessen darauf, diesen Professor Zamorra einmal kennenzulernen. Der sollte so eine Art Gespensterj äger sein…
Die düsteren Gestalten sah Sandra Jamis zum ersten Mal, als sie die Stelle passierte, wo die Gräber der Scipionen lagen, jener Adelsfamilie, deren berühmtester Sproß einst den großen Hannibal besiegt hatte.
Sie schienen förmlich aus der Dunkelheit zu wachsen. Allein, zu zweit oder zu dritt schritten sie schweigend der Porta San Sebastiano zu. Nur die Sohlen ihrer Sandalen ließen auf dem groben Pflaster leicht klatschende Geräusche hören.
Sandra Jamis spürte, wie sich etwas in ihr zusammenzog. Denn es war nicht nur das Schweigen, das die stillen Wanderer so unheimlich machte. Es war vielmehr die Tatsache, daß es Gestalten dieser Art seit Jahrhunderten eigentlich nicht mehr geben durfte.
Der ganze Körper war in einen langen Mantel gehüllt, der ohne jegliche Verzierung von den Schultern bis zu den Füßen des Trägers floß. Die Hüften waren mit groben Stricken gegürtet, und die Kapuzen verdeckten nicht nur den Kopf, sondern ließen auch die Gesichtszüge mehr erahnen wie erschauen.
Als Sandra Jamis ihren Schritt beschleunigte und eine kleine Gruppe der unheimlichen Gestalten überholte, wurde ihr klar, daß es sich nicht um irgendwelche Mönche handelte, die hier eine nächtliche Prozession abhielten. Das mittelgroße Mädchen mit den langen, dunklen Haaren hatte in Rom schon vielen Ordensleuten ins Gesicht gesehen. Und immer hatte es darin Güte,
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