Meine Seele weiß von dir
„Das ist blanker Unsinn!“, platzte ich heraus. „Bestimmt sogar! Ich meine, warum sollte ich?“
Wir sahen uns schweigend an. Schließlich zuckte Romberg mit den Schultern. „Auf jeden Fall erscheint mir das Ausmaß eines derartigen Erinnerungsverlustes, nun, in höchstem Maße außergewöhnlich. Ja, unmöglich.“ Er schaute mir ins Gesicht und korrigierte sich rasch. „Quasi unmöglich.“
Es entstand eine kaum merkliche Pause, bevor er fortfuhr. „Okay, geben wir Ihrem Gehirn einfach noch mehr Zeit.“
„Womit Sie das wohl älteste Rezept der Welt ausstellen, wie?“
„Was meinen Sie?“
Ich musste schmunzeln. „Na ja. Eine große Dosis Zeit. Sie heilt ja bekanntlich alle Wunden. Nicht wahr?“
„Nein, nein!“, widersprach er beinahe vehement. „Das vermag sie keineswegs. Aber sie ist und bleibt trotzdem eine recht gute Medizin. Und sie wirkt auf jeden Fall lindernd.“ Er kaute wieder an seinem Daumennagel, bevor er bedächtig verkündete: „Ich werde Sie bald nach Hause entlassen.“
„Was? Nein! Bitte, Sie dürfen mich nicht einfach zu diesen ... diesen völlig fremden Leuten schicken!“
Romberg schnalzte beschwichtigend mit der Zunge. „Nun, eine gewisse Furchtsamkeit ist völlig normal.“ Er errötete bei seinen Worten, als hätte er ein schlechtes Gewissen, mich zu entlassen. „Ebenso könnten Orientierungslosigkeit und Schwindelattacken auftreten. Möglicherweise Übelkeit und Kopfschmerzen. Keine Sorge! Das ist bei Kopfverletzungen keine Seltenheit.“
Als könnte mich das beruhigen! Ich betastete meine Schläfe. Sie war noch immer in einem hellen Lila verfärbt und geschwollen. Der unerwartet heftige Schmerz ließ mich zusammenzucken.
„Aber ich will hier nicht weg“, jammerte ich. „Ich kenne doch niemanden da draußen!“
„Bitte, Frau Hohwacht, nun hören Sie aber auf, sich verrückt zu machen, ja?“ Er nahm sanft meine Hand. „Sie erkennen lediglich niemanden. Das ist ein himmelweiter Unterschied! Umgekehrt kennt und erkennt man Sie sehr wohl. Und man liebt Sie. Da ist Ihr Mann. Sie haben Familie und Freunde. Sehen Sie, hier vermögen wir momentan nichts weiter für Sie zu tun. Sie können genauso gut in Ihrer gewohnten Umgebung auf das Einsetzen Ihres Erinnerungsvermögens hinarbeiten. Gehen Sie zu einer Physiotherapie. Wie Ihr Mann mir sagte, kennt er eine erfahrene Kollegin, die Sie in jeder Hinsicht gut betreuen wird.“
Das kam unerwartet. „Ach.“ Ich brachte nur diese Silbe hervor.
„Ja. Er versicherte mir, dass man dort das richtige Therapieprogramm für Sie erstellen wird. Ich werde Sie an die Kollegin überweisen und lasse die nötigen Unterlagen fertigmachen. Und, Frau Hohwacht?“
„Hm?“
„Gönnen Sie sich viel Ruhe. Nehmen Sie sich Zeit und verlieren Sie nicht die Geduld. Ich bin sicher, Ihr Mann wird Ihnen zur Seite stehen.“
Zuhause! Warum hörte sich die Aussicht, dorthin zu gehen, genauso verlockend für mich an wie ein Bad im Eismeer?
„Ich habe Angst, Doktor Romberg.“
„Ja. Das verstehe ich sehr, sehr gut. Wäre ich an Ihrer Stelle, ginge es mir sicher nicht anders. Dessen ungeachtet müssen Sie Vertrauen haben. Zu mir. Zu Ihrem Mann. Und alles wird gut.“
Er blieb noch eine Weile bei mir sitzen, wohl, weil er versuchte , mich durch seine Anwesenheit zu trösten.
„Ich bin todmüde“, sagte ich schließlich und gähnte. Eine schwere, erdrückende Müdigkeit legte sich um mich.
„Völlig normal“, entgegnete er. „Völlig normal bei Kopfverletzungen.“
Er zog mir die Bettdecke bis unter das Kinn. Danach drapierte er fürsorglich meine Arme darauf. Ich lag da wie eine Schaufensterpuppe: stocksteif, stumm und mit einem Vakuum im Kopf.
„Völlig normal“, wiederholte Doktor Romberg sein Mantra. Leise durchquerte er das Zimmer und ging hinaus.
Sobald er fort war, stand ich auf. Ich nahm meine Decke und ging zu dem weiß lackierten Schrank. Mit einem Aufatmen zog ich die Tür hinter mir zu.
*
So war das gewesen. Und nun scheint der Moment meiner Entlassung gekommen.
Daneben ist es auf jeden Fall befremdlich für mich, dass mein Gehirn sich nun wieder an Vergangenes erinnert: wenn auch nur an die letzten acht Tage. Ganz so, als wäre nichts geschehen. Als hätte mich an unserem Swimmingpool ...
„Sina-Mareen?“
Ich fahre zusammen.
Da ist etwas gewesen! Ein jähes Aufflammen einer Erinnerung, kurz nur, ganz kurz. Ein Bild. Grell und bunt, nicht größer als ein Pixel. Doch jetzt ist es wieder
Weitere Kostenlose Bücher