Das Mädchen aus Mantua
Padua, Mai 1601
Streitlustiges Geschrei übertönte das Rumpeln der Räder. Celestina blickte aus dem Fenster der Kutsche. Ungefähr ein Dutzend Männer hatten sich auf dem großen Platz versammelt. In zwei Gruppen standen sie einander gegenüber, und alles ließ darauf schließen, dass es Ärger geben würde. Wütende Schreie schallten hin und her, Fäuste wurden geschüttelt. Mindestens zwei der Männer hatten ihre Degen gezogen, einer schwang einen Knüppel, ein anderer hatte seinen Dolch gezückt.
Die meisten von ihnen waren jung, aber Celestina sah auch einige, die bereits in die Jahre gekommen waren. Das Gebrüll, mit dem die Männer der beiden feindlichen Lager einander bedachten, verhieß Mord und Totschlag. Anders ließen sich Drohungen wie »Ich spieß dich auf!« oder »Komm nur her, dann wirst du lernen, ohne Eier herumzulaufen!« kaum deuten.
»Gleich wird Blut fließen«, sagte Celestina.
Ihre Stiefschwester Arcangela, die seit mindestens einer Stunde tief und fest neben ihr geschlafen hatte, erwachte nur langsam. »Sind wir schon da?«
»Weit kann es nicht mehr sein, wir sind bereits mitten in Padua. Wir müssen nur noch an dieser Prügelei vorbei.«
»Welche Prügelei?« Arcangela beugte sich vor und schob sich an Celestina vorbei, um aus dem Wagenfenster zu blicken. »Ach, du lieber Gott!«
Von einem Augenblick auf den nächsten hatte sich die Piazza in eine Kampfarena verwandelt, auf der wildes Getümmel herrschte. Zwei der jüngeren Kontrahenten fochten einen Degenkampf aus, einer ging auf seinen Gegner mit dem Knüppel los, weitere hieben mit Fäusten aufeinander ein. Einer hatte gar eine Pistole gezogen und fummelte an der Ladevorrichtung herum, was einen anderen dazu veranlasste, eine Handvoll Pferdeäpfel vom Pflaster aufzuklauben und dem Pistolenbesitzer ins Gesicht zu drücken. Der verhinderte Schütze ließ darauf die Waffe fallen und stürzte sich auf den Feind, worauf sich beide im nächsten Augenblick, heftig miteinander ringend, auf dem Boden wälzten.
Gebannt beobachtete Celestina die Kämpfenden, die einander paarweise attackierten. Hier und da floss wirklich bereits Blut. Einer hatte eine Rapierwunde davongetragen, auf seinem Ärmel breitete sich helles Rot aus. Ein anderer blutete aus der Nase, ein Dritter hatte eine große Platzwunde über dem Auge. Man würde sie mit mindestens acht Stichen nähen müssen, wie Celestina mit geschultem Blick erkannte.
Arcangela stieß einen erschreckten Schrei aus und deutete aus dem Fenster auf die Piazza. »Da! Dieser Kerl da mit der Pistole! Er schießt auf uns!«
Der Waffenbesitzer, das Gesicht immer noch voller Pferdemist, hatte die Oberhand gewonnen und sich wieder seiner Pistole bemächtigt, und er schien grimmig entschlossen, sie zu benutzen. Tatsächlich sah es auf den ersten Blick so aus, als würde er auf das offene Wagenfenster zielen. Celestina duckte sich unwillkürlich und dabei sah sie das wirkliche Ziel: einen Mann in den Vierzigern mit goldfarbener Samtweste, an dem die Kutsche soeben vorbeirollte und der damit beschäftigt war, einen anderen Mann mit roten Haaren zu erwürgen.
»Lass ihn los, Bertolucci, oder ich schieße dir den Kopf weg«, schrie der Bursche mit der Pistole. Mit der hochgewachsenen Gestalt, dem wild zerrauften Haar und dem mistverschmierten Gesicht sah er aus wie ein urzeitlicher Krieger, dem jemand versehentlich ein ordentliches Wams und feine Strumpfhosen angezogen hatte. Als er mit großen Schritten auf die beiden Kämpfenden zulief, war zu sehen, dass er ein Bein leicht nachzog. Offenbar war auch er bereits verwundet worden, doch seiner Angriffslust tat das keinen Abbruch. Celestina konnte sehen, wie sich sein Finger um den Abzug der Steinschlosspistole krümmte. Seine Hand zitterte nicht. Er hatte den Mann mit der goldfarbenen Weste genau im Visier.
»Verflixt«, murmelte Celestina. Waren hier alle verrückt geworden? Was um Himmels willen konnte es wert sein, dass diese Männer einander nach dem Leben trachteten?
Doch es kam nicht zum Schuss, denn im selben Moment gingen die Pferde durch und versperrten dem Schützen die Sicht. Durch den Ruck, mit dem die Kutsche sich in Bewegung setzte, wurde Celestina zurück in den Sitz geworfen und dann nach vorn auf die gegenüberliegende Bank geschleudert. Arcangela schrie auf, ebenfalls vom Schwanken der Kutsche hin und her geworfen. Auch der Kutscher schrie, jedoch nicht vor Schreck, sondern im Befehlston, um die aufgescheuchten Pferde zu beruhigen.
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