Meine Wut rettet mich
Wohl der größte Fördertopf ist der für Zuschüsse vielfältiger Art: für Spitäler, Hochschulen, Schulen, Wallfahrten, aber auch für die Reisen der beiden zur Militärseelsorge berufenen Militärbischöfe sowie für Großereignisse wie beispielsweise den Ökumenischen Kirchentag. In der Phase der Wiedervereinigung zögerten vor allem ostdeutsche Kirchen, die westliche Subventionierungskultur anzunehmen. Zu ihnen gehörte der Pfarrer und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer. Ihre finanzielle Unabhängigkeit vom Staat hatte die evangelischen Christen in der DDR letztlich erst so wichtig werden lassen für die Bürgerrechtler, ähnlich wie dies die Katholiken für die Solidarno ´ s c ´ in Polen geworden waren. Trotz aller Zuwendungen steckt die Kirche in finanziellen Schwierigkeiten, und zwar aus vielerlei Gründen. Dazu gehören die teuer zu unterhaltenden Gebäude ebenso wie die hohe Zahl der Kirchenaustritte.
Das Vertrauen in die Institution sinkt, nicht aber die prinzipielle Nachfrage nach den Inhalten. Immer mehr Menschen fühlen sich in einer Art moralischen Klemme und sind auf Sinnsuche. Sie spüren, dass sie im Materiellen nicht ihr ganzes Glück finden, und suchen weiter: in der Esoterik, in der Psychologie, bei Sekten. Etliche werden dort zumindest vorübergehend fündig, manche bleiben Suchende, andere finden wieder zurück zum traditionellen christlichen Glauben, wie ihn die Volkskirchen vertreten.
»An einen Gott« glauben fast 60 Prozent der Deutschen, mehr Frauen als Männer, und Westdeutsche häufiger als Ostdeutsche. Der Bezug zur politischen Orientierung ist deutlich: 78 Prozent der CDU/CSU-Wähler erklären, sie glauben an Gott, bei den FDP-Wählern sind es 69, bei den Grünen 58, bei der SPD 52 Prozent. Schlusslicht bildet die Linke (38). Übereinstimmend eindeutig ist das Bild, fragt man nach der Bedeutung christlicher Werte wie Nächstenliebe oder Barmherzigkeit: Neunzig Prozent halten diese Werte für wichtig oder für sehr wichtig. 5
Es besteht kein Zweifel: Glauben ist weiterhin gefragt. Allerdings will man ihn zunehmend auf individuelle Bedürfnisse zugeschnitten, portioniert und serviceorientiert – der Glauben soll sich ans Leben anpassen, nicht das Leben an das, woran man glaubt. Viele unterschätzen auch, welche Antworten auf Fragen ihres Alltags sie im christlichen Glauben finden könnten. Denn das herauszufinden, erfordert eine gewisse Anstrengung. Man muss hinterfragen wollen: Wie abhängig machen uns Wohlstandsdrill, Boni oder ein zur Untätigkeit »verdammender« Sozialstaat? Woran richte ich mein Wertegerüst aus? Wie unterscheide ich, was man macht und was man besser unterlässt?
Medial sorgen Kirchen weiterhin für hohe Aufmerksamkeit, entweder über Personen wie Papst Benedikt XVI., dessen Deutschland-Besuch im September 2011 zum Medienevent wurde, oder wie die Ex-Bischöfin und ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, Margot Käßmann, die seit ihrer Alkoholfahrt im Februar 2010 wohl öfter in Talkshows sitzt denn je. Die Empörung über die Fälle sexualisierter Gewalt im kirchlichen Raum, deren Vertuschen und Verschweigen kann man unter anderem auch als ein Indiz dafür sehen, dass es der Öffentlichkeit nicht egal ist, was in der Kirche passiert, sondern es offenbar besonders bestürzt, wenn ausgerechnet die Kirche Heimat solcher Täter war (und ist).
Zweifellos gilt auch: Christen erleben gegenwärtig eine Krise. Man muss dabei unbedingt trennen zwischen Glaubenskrise und Kirchenkrise. Die nachlassende Bindung vieler Menschen an Gottesgläubigkeit und Gottvertrauen ist ein überkonfessionelles Phänomen. Sie erklärt eben nicht die gegenwärtige institutionelle Krise vor allem der katholischen Kirche. Wer das annimmt, stößt in das alte Horn: Die Moderne ist schuld an allem; in der heutigen Welt mit ihren Vorstellungen von Selbstbestimmung, Gleichheit und Gerechtigkeit liegen alle Schwierigkeiten der Kirche begründet, sie selbst hat sich demnach also nicht zu ändern. Vor diesem Hintergrund mahnt die katholische Theologin Judith Könemann, die an der Universität Münster forscht, die Kleriker, endlich ihren Gläubigen zu vertrauen und ihnen Verantwortung zuzutrauen. Geschehe das nicht bald, schrumpfe die Kirche weiter und mit ihr auch ein großes Potenzial an sozialem Engagement für Arme und Schwächere. Als im Ruhrbistum kurz vor Weihnachten 2011 katholische Gläubige gegen ihren Bischof rebellierten, weil er eine große Zahl Kirchen
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