Meine Wut rettet mich
oder von religiösen Eiferern. Der Irak ist ein Beispiel: Dort reduzierte sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 bis 2010 die Zahl der Christen durch massive Verfolgung auf weniger als die Hälfte. Bislang hält sich in solchen Fällen die Solidarität sehr in Grenzen, trotz des Arguments, dass dort Menschen verfolgt werden, die von einem ähnlichen Weltbild geprägt sind.
Die Kirche könnte zu vielen Themen im Land und in der Welt Zweifel anmelden, zur Reflexion mahnen und Einhalt gebieten. Und sie muss die ethischen Erwartungen formulieren, die sie an eine Gesellschaft stellt. Wer aus Angst vor leeren Kirchenbänken nur noch auf Anpassung oder Unterhaltung schielt, hat nichts begriffen. Die Kirchen, besonders ihre führenden Kräfte, müssen sich selbst vergewissern. Sie müssen wissen, was sie wollen und wofür sie in der Gegenwart stehen. Die Wege können vielfältig sein, sie können auch Brüche haben und es werden Hindernisse zu nehmen sein.
Das alles wollen die in diesem Buch nebeneinandergestellten Lebenswege und Glaubensstandpunkte deutlich machen. Sie sollen eine im Christentum verhaftete Wertigkeit und Sinnhaftigkeit nahebringen.
Sechs Persönlichkeiten, ihre Glaubensstandpunkte und Lebenswege
Zu Wort kommen der Benediktiner Dr. Notker Wolf, der Kapuziner Paulus Terwitte, die Missionsschwester des Ordens »Unserer Lieben Frau von Afrika« Dr. Lea Ackermann, der evangelische Publizist und Konvertit zum Protestantismus Arnd Brummer, der evangelische Theologe und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer, die nordelbische Bischöfin Kirsten Fehrs. Sie alle sind Menschen, die ihren Glauben vielfältig zur Alltagspraxis machen: Christen, die ihre Haltung stärkten, indem sie neue Wege gingen und indem sie auf ihrem Weg unbeirrbar vorangehen. Ihre Positionen, ihre Handlungen und Meinungen sind verbunden mit dem Bild, das in mir über sie entstand. Die Portäts ergänzen für den Lesenden die in den Gesprächen entwickelten Positionen der Person. Denn ihr Handeln ist stets durch ihre Persönlichkeit geprägt. Die Weg leitenden Bilder, die in den Porträts entwickelt werden, sind verschieden wie die Charaktere. Gemeinsam ist allen, dass sie streitbare Geister sind oder zumindest streiterprobte, und zutiefst überzeugt, dass die Kirche sich aktiv einmischen muss. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie für sich selbst unendlich viel aus ihrem Christsein schöpfen, und gemeinsam ist ihnen schließlich, dass sie klar reflektieren und tolerant sind. Sie erzwingen nichts, sie bieten einfach jedem an, der sich öffnen möchte, dem zu folgen, dem sie folgen: Christus.
Lea, Notker, Paulus – alle drei spürten früh ihre Berufung, alle drei erzählen von diesem Brennen, dem Entflammen für Jesus, von ihrer Überzeugung, Lebensfülle nur in einem Gott gewidmeten Leben zu erfahren, und von ihrem Bedürfnis, den Glauben zu leben, indem sie anderen Menschen helfen. Alle drei sind in Familien aufgewachsen, in denen katholische Rituale und Lebenshaltungen großgeschrieben wurden. Alle schildern, dass sie eine gelassene, eine fröhliche Frömmigkeit erlebten, keinen strafenden Gott. Dennoch: Der Weg ins Kloster war keinem von ihnen durch das Elternhaus vorgezeichnet .
Im Gegenteil. Bernd Terwitte sollte Gemüsehändler werden, wollte aber das Abitur machen. Gegen den Willen des Vaters. Und wurde zum Paulus. Lea Ackermann wäre gerne Lehrerin geworden, doch ihrem Vater waren Akademiker suspekt, und so landete sie in einer Banklehre, trat bald danach ihrem Orden bei, wurde Leontia und dann wieder Lea. Werner Wolf, der sich als Benediktiner den Namen Notker wünschte, wollte ebenfalls Lehrer werden, vor allem aber Missionar. Beides wurde ihm lange nicht erfüllt, sein Orden hatte anderes für ihn ausersehen. Heute sagt er, durch diesen Gehorsam sei ihm ein Leben eröffnet worden, das er sich niemals hätte erträumen können, ein Reichtum an Erfahrungen und Erlebtem, der unvorstellbar gewesen wäre, wenn er sich damals durchgesetzt hätte. Und letztlich wurde er, was er einst wollte, Lehrer und Missionar, aber in ganz andersartigen Dimensionen.
Lea Ackermann wusste als 12-Jährige, dass sie Nonne werden wollte, schlechte Erfahrungen mit »Pseudo-Christen«, wie sie sie nannte, bestärkten sie: Sie wollte das Christentum wirklich leben. Ihre Offenbarung an ihrem zwölften Geburtstag erzeugte bei ihrem Vater einen Wutanfall. Sie schwieg, verlor aber ihr Ziel nicht aus den Augen, schob es nur etwas hinaus – elf Jahre
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